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Zwei Weltmeister bei den Chess Classic Mainz auf Augenhöhe

Anand gewinnt LRP-Duell der Weltmeister im Tiebreak

von Harald Fietz, Fotos Eric van Reem, Juli 2001

mehr Schachtexte von Harald Fietz

   Außerhalb offizieller Weltmeisterschaften sind Zweikämpfe im modernen Schach eine Seltenheit; Vergleiche mit Beteiligung des Weltmeisters ohnehin. Ein Aufeinandertreffen zweier amtierender Schachweltmeister in einem längeren Match hat es in der Schachgeschichte noch überhaupt nie gegeben. Wenngleich vom 26. Juni bis 1. Juli 2001 kein "Vereinigungsmatch" im klassischen Schach stattfand, die Ansetzung Viswanathan Anand gegen Wladimir Kramnik versprach auch im Schnellschach eine prickelnde Auseinandersetzung zu werden. Die Landesbank Rheinland-Pfalz, der neue Hauptsponsor der Chess Classic in Mainz, hatte zum "Duell der Weltmeister" geladen und die Schachwelt würdigte die Landeshauptstadt an fünf Match-Tagen als Metropole des Weltschachs.

 

Das LRP-Duell der Schachweltmeister bei den Chess Classic in Mainz

 Das LRP-Duell der Schachweltmeister bei den Chess Classic in Mainz

 

   Ein mit Erwartungen aufgeladenes Tauziehen bot alle Höhen und Tiefen der Schachpraxis; positive und nervöse Emotionen auf beiden Seiten trugen zum Psychokrieg bei. Wenngleich die Akteure nicht mit den Vorschlaghämmern aufeinander losgingen, mit denen sie nach der Eröffnungspressekonferenz am 25. Juni, dem Geburtstag Kramniks, zwei blaue Riesensparschweine (mit jeweils einem weißen und schwarzen König) zertrümmert hatten, Rücksichten waren auf der im hellen Scheinwerferlicht erstrahlenden Bühne der Rheingoldhalle passe.

Die Partien des LRP-Matches zum Nachspielen online

 

 

Notbremse und Fingerfehler

1. Matchtag

 

   Ist die Startphase eines Fußballspiels von vorsichtigem Abtasten geprägt, dann bemühen die Faßbenders, Rubenbauers und Töpperwiens die sinnige Floskel vom "Rasenschach" - will heißen, es ist nichts los, denn die 22 Ballzauberer belauern sich bloß. Ähnliches hätte man unter Umständen auch vom Auftakt im Zehn-Partien-Match der beiden Weltmeister erwarten können. Doch beide Spieler wussten, dass ein Zweikampf eine Standortbestimmung ist - Tagesform ist keine Ausrede, das Renommee steht auf dem Spiel.

  Das LRP-Duell der Schachweltmeister bei den Chess Classic in Mainz

    Entsprechend entschlossen ging Braingames-Weltmeister Wladimir Kramnik in der ersten Partie mit Weiß zu Werke. Wie in der diesjährigen Schnellpartie beim Amber-Turnier in Monaco verteidigte sich der Fide-Weltmeister mit Angenommenem Damengambit. Allerdings erreichte Kramnik nach einer Abweichung im 7. Zug aus der Eröffnung eine Stellung, in der er einen Isolani auf d4 für aktives Figurenspiel akzeptierte. Im 17. Zug wählte er mit dem Läuferzug nach g5 den besten Plan. Die Kommentatoren suchten bereits nach dem schmalen Pfad, den der Inder auf dem Weg zum Remis beschreiten konnte: Hergabe der Qualität hieß die Lösung. Bei Zug 19 blieb den Kontrahenten noch jeweils etwas mehr als zehn Minuten Bedenkzeit. Qualität und aktive Türme schienen jedoch zugunsten des Weißen zu sprechen. Es galt nur noch, die Gefahr eines Grundlinienmatts zu beseitigen, danach hätte das Zusammenspiel der Schwerfiguren die Läufer aufgerieben. Just als der Russe mit der scheinbar cleveren Turmüberführung nach e3 die Initiative vollends an sich reißen wollte, konterte der Vorjahresgewinner des Chess-Classic-Giants. Mit Lg4 und Lf5 änderte sich die Stellungsbewertung schlagartig: "Das sind Chancen, die Anand sofort sieht. Eine überraschende Wende in der Partie. Die weißen Figuren stehen jetzt unharmonisch. Das ist unglaublich", schallte es von Artur Jussupow aus der Kommentatorenbox. Mit einer Aktivierung der Türme von der Grundlinie wäre Kramnik weiter am Drücker gewesen. Jetzt galt nur noch Schadensbegrenzung: "Kramnik muss die Notbremse ziehen, alle Bremsen, die noch möglich sind." Bei Zug 32 hatte der Russe nur knapp vier gegenüber sechs Minuten Bedenkzeit für den weltbesten Schnellschachspieler. Doch angesichts der Perspektive, dass nur noch Bauern am Königsflügel übrig geblieben wären, einigten sich beide Cracks auf die Punkteteilung.

   Die zweite Begegnung wird wohl - trotz ihrer kurzen Dauer von nur 14 Zügen - zumindest in den Annalen der Schachpsychologie einen Ehrenplatz erhalten. Nachdem beide erstmals überhaupt die Spanische Partie auf das Brett brachten, schien die Berliner Tortur ihre Fortsetzung zu finden. Der versierteste Experte dieser "drögen" Verteidigung hat wohl etwas in petto, um nicht nochmals eine Bruchlandung wie gegen Ex-Weltmeister Garri Kasparow vor einem Monat in Astana zu erleiden. Bei diesem Turnier zur zehnjährigen Unabhängigkeit Kasachstans hatte Kramnik seine erste Niederlage seit vier Jahren gegen Kasparow erlitten. Die Vorfreude auf eine spannende Partie wich sofort jäher Ernüchterung: Die schnellsten Finger im Weltklasseschach waren diesmal zu fix. Anand "vergaß" die Zugabfolge mit 5.d4 zu spielen und tauschte sofort auf c6. Blankes Entsetzen, denn danach bestand keine Aussicht mehr auf Vorteil, denn die schwarzen Läufer kontrollierten auf den Diagonalen das Brett. Perspektivlos und frustriert offerierte Anand nach 14 Zügen ein Remis. Kopfschüttelnd entschuldigte sich der "Tiger von Madras" beim Publikum und schlich von dannen. Unter den Experten lautete die am meisten gestellte Frage: "Wird Wladimir Kramnik ihm und den Schachfans nochmals die Chance geben, die Standfestigkeit der ,Berliner Mauer' zu testen?"

 

Stürmischer Hochzeitstag für Anand

2. Matchtag

 

 

   Die Schachgemeinde wurde bereits in der nächsten Partie nicht enttäuscht: Nach der Fingerfehler-Episode folgte gleich die "korrekte" Variante in der unendlichen Geschichte der Berliner Verteidigung in der Spanischen Partie. Das Konzept der Chess Classic Mainz macht es möglich, denn hier wird die Farbverteilung - analog dem Tiebreak beim Tennis gewählt, das heißt aus Viswanathan Anands Sicht: Schwarz - Weiß - Weiß - Schwarz - Schwarz - Weiß - Weiß - Schwarz - Schwarz - Weiß.

   Die ersten 13 Züge geschahen im Blitztempo. Im 14. Zug brachte Anand eine Neuerung, indem er die Verdoppelung der Türme auf der d-Linie einleitete. Einen Monat zuvor in Astana überführte Alexej Schirow gegen den Braingames-Weltmeister den Sc3 an den Königsflügel. Auch Garri Kasparow wählte beim Londoner WM-Match diese Strategie gegen den Herausforderer Wladimir Kramnik. Diesmal benötigte der Russe eine Weile, um sich an die neuen Stellungsmuster zu gewöhnen. Im 17. Zug besaß der Inder ein Zeitpolster von fünf Minuten. Obwohl die Position mit dem aktiven weißen Turm auf der achten Reihe gedrückt aussah, schickte Kramnik mit dem Vorstoß des Bauern nach g4 erst einmal den Königsspringer an den Rand, platzierte seinen Springer günstig auf g6 und schaffte dann offene Diagonalen für sein Läuferpaar. Letzteres ist das Pfund, welches Kompensation für die schwarze Bauernstruktur am Damenflügel schaffen muss.

   Wie tief das Verständnis des Russen für die Mittelspiel-Nuancen dieser damenlosen Stellungstypen ist, offenbarte der Bauernzug nach c4. Artur Jussupow tat seine Bewunderung darüber kund, dass der Nachfolger Kasparows nicht etwa hektisch mit Lg7 den lästigen Turm auf d8 zu befragen versuchte, sondern Optionen für die langfeldrigen Leichtfiguren offenhielt. Nach dem 23. Zug zeigte das Display noch 14 Minuten für den Inder und 9 Minuten für den Russen - vier Züge weiter ereilte Weiß sein Schicksal. Was mit dem Bauernvorstoß nach c4 vorbereitet wurde, vollendete der "Nadelstich" nach g3. Mitten ins Herz traf dieser den "Tiger von Madras" an seinem fünften Hochzeitstag. Anand registrierte ungläubig das Geschehene, zog die Augenbraue hoch, rang sich zu einem leichten Kopfschütteln durch - sollte er tatsächlich die taktische Replik übersehen haben? Kramnik behielt sein Pokerface - umgekehrt zur ersten Matchpartie war er der Nutznießer der abrupten Wende. Nach 27 Zügen übernahm der Moskauer mit dem 2:1 die Führung im Gesamtklassement.

 

Braingames-Weltmeister Wladimir Kramnik

Braingames-Weltmeister Wladimir Kramnik

    Doch das schien ihm an diesem Tag nicht genug. Mit Verve stürzte er sich auf eine typische Position im Angenommenen Damengambit. Anand sah sich gezwungen, mit h6 den Lg5 zu befragen, schaffte aber eine Schwäche, auf die sich anschließend die Angriffsbemühungen des Weiß-Spielers konzentrierten. In einer Vorgängerpartie hatte Schirow bei der Fide-WM in Neu Delhi dieses Konzept gegen Boris Gelfand angewandt, doch dieser hatte auf f6 getauscht. Kramnik behielt seinen schwarzfeldrigen Läufer, um die potenzielle Angriffsmarke im Visier zu behalten.

   In der Folgezeit schien es, als ob die Kontrahenten vergessen hätten, dass Schnellschach gespielt wird. War der Zeitverbrauch nach Zug 16 noch fast identisch, investierte Anand nach dem Läufereinschlag auf h6 und der Postierung der Dame auf der g-Linie fast sechs Minuten in eine brauchbare Verteidigungsstrategie. Heraus kam mit De7 ein subtiler Entlastungszug. "Danach hat Weiß trotz aller Drohungen nichts Konkretes mehr", bewunderte Artur Jussupow den starken Zug. Schwarz schaffte es gerade rechtzeitig, selbst den Lb7 zur Verteidigung an den Königsflügel zu schaffen. Kramnik schaute und schaute in die Stellung, die Uhr lief auf unter zwei Minuten herunter, dann war klar: Das Wagnis ist zu groß. "Ich hätte mit 26.Dh3 gxh6 27.Tg3+ weiterspielen können. Ich hatte das Gefühl, dass etwas möglich ist, ich konnte aber nichts Konkretes bei dem dubiosen Opfer finden. Wegen meiner knappen Bedenkzeit wollte ich kein Risiko eingehen. Bei mehr Zeit hätte ich es vielleicht versucht. Hätte ich die Damen getauscht, wäre mein Mehrbauer angesichts der schwachen Bauern kaum etwas wert gewesen", kommentierte der Braingames-Weltmeister. Artur Jussupow resümierte am nächsten Tag am Frühstückstisch ähnlich: "Mehr als drei Bauern für die Figur bekommt man nicht." Vor dem Ruhetag war es aus Sicht des Russen ausreichend, dass der Druck auf dem Inder lastete. Der meinte in der Tagespressekonferenz, dass er sich so durchgeschüttelt fühle wie Figuren beim Fischer Random Chess. Ob ihm und seiner Frau Aruna wenigstens die mit fünf kleinen Tigern verzierte Torte aus Marzipan den Hochzeitstag versüßen konnte, ist nicht bekannt.

 

Zwei Weltmeister werden Schachtiger

Ruhetag

 

   Am Ruhetag wirkte der Fide-Weltmeister bereits wieder gefasst, als er am Abend zusammen mit Wladimir Kramnik und dem Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel die Ehrenmitgliedschaft im Förderverein der Frankfurt Chesstigers erhielt. Beide Spitzenspieler sind seit 1994 beziehungsweise 1995 regelmäßige Gäste bei den Chess Classic in der Rhein-Main-Region und haben über Jahre die Qualität des Turniers geprägt. Außerdem stellen sie sich als Vorbild für die Jugend in den Dienst um die Förderung des königlichen Spiels. Simultanvorstellungen und Trainingsabende sind Teil ihres Beitrags zum Konzept der Chesstigers.

 

 

Rationalität besiegt Intuition

3. Matchtag

 

Das LRP-Duell der Schachweltmeister bei den Chess Classic in Mainz

   Nach dem dritten Tag war Viswanathan Anand froh, den Ausgleich geschafft zu haben. Die Frage eines Journalisten, ob er die ersten vier Partien nochmals Revue passieren lassen könne, ließ der Inder lieber unbeantwortet. "Ich will nicht zurückblicken", gestand der 31-Jährige stattdessen. Kein Wunder, wirkte er doch bisher eher unkonzentriert. Doch nicht nur der Tag Pause schien ihm gut getan zu haben; er profitierte auch davon, dass sich Wladimir Kramnik nicht mit seinem berühmten Sicherheitsstil versteckte, sondern den offenen Kampf suchte.

   Mit einer 2,5:1,5-Führung im Rücken begann die fünfte Partie in der mit 400 Zuschauen gut gefüllten Rheingoldhalle schwungvoll. Mit den weißen Steinen wollte der Braingames-Weltmeister im Angenommenen Damengambit erneut eine Vorentscheidung erzwingen. Es schien zunächst, als ob der Inder auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Jedenfalls rätselten die Kommentatoren Artur Jussupow und Christopher Lutz, warum Schwarz in dieser Variante bis Zug 15 bereits neun wertvolle Minuten seiner Bedenkzeit verbraucht hatte. Anno 1994 stand die Eröffnung - insbesondere während der Schach-Olympiade in Moskau - auf der Agenda der Großmeister. Mit dem tollkühnen Läuferopfer folgte Kramnik allerdings einem Pfad, den die Experten bereits zu den Akten gelegt hatten. Doch moderne Technik zerrt Verstaubtes ans Tageslicht: Dank eines Handheld-Computers für die Stellungseingabe, Infrarotschnittstellung und mit normalem Handy gelang in Windeseile der Zugriff auf die Online-Datenbank. Moderator Eric Lobron konnte so - ausgerüstet mit dem Wissen, welches das zum Pocket-Fritz-Match angereiste ChessBase-Team zusammentrug - dem erstaunten Publikum mitteilen, dass die Kontrolle des Feldes g5 mittels 17...h6 die Neuerung von Anand darstellte. Andere Züge - beispielsweise 17...g6 - wurden schon in den 1960er Jahren vom Dresdner Altmeister Wolfgang Uhlmann ausprobiert. Kramnik jedenfalls hatte keine so breite Informationsbasis, entsprechend viel Zeit investierte er in die Suche nach Fortsetzungen. Bei Zug 20 blieben ihm noch 8:50 Minuten gegenüber 10:58 Minuten für Schwarz. Sein 21. Zug kostete weitere drei Minuten und stellte sich in der Analyse als zu langsam heraus, um die verbliebenen Figuren rechtzeitig in Richtung entblößter Majestät zu dirigieren. Mit jedem Figurentausch kam Anand dem Match-Ausgleich einen Schritt näher. Trotz des zeitweiligen Ausfalls des Übertragungssystems - beide Spieler hoben bei 29...De5 30.Dxe5 gleichzeitig ihre Damen hoch - war das Finale letztlich eine Sache der Technik. Die Probleme des Endspiels beschrieb Anand so: "Ich musste schauen, dass ich die drei Bauern zeitig stoppe." Mit Läufer und Springer matt zu setzen darf man einem Spieler seines Kalibers zutrauen. Dieser Ansicht war auch Kramnik und gab auf.

   Nach diesem Höhepunkt bot die erste Partie der zweiten Halbzeit fade Kost. Kramnik war mit dem Stellungstyp aus seiner 11. Partie im WM-Kampf gegen Garri Kasparow bestens vertraut: Anand öffnete früh die a-Linie, tauschte die Türme, konnte aber mit den Zentrumsbauern d4 und e4 nichts ausrichten. Am interessantesten war noch das psychologische Moment, denn Kramnik verzichtete auf die Berliner Mauer, um - wie er es begründete - mit einer anderen Variante die Spiellaune zu bewahren. Schelmische Gemüter unkten: "Hat der Russe etwa etwas in petto, das er sich für einen finalen Coup de Grace aufsparen möchte?"

 

Kramnik verdirbt zwei Gewinnstellungen

4. Matchtag

 

Das LRP-Duell der Schachweltmeister bei den Chess Classic in Mainz

   Am Ende des vorletzten Spieltags der Chess Classic Mainz erkundigte sich die Presse vorsorglich schon einmal, nach welchem Modus es bei einem Unentschieden nach zehn Partien weitergeht. Wie das gesamte Match waren auch die Partien sieben und acht durch einen nervösen Spielverlauf und eine Vielzahl von Fehlern geprägt. Dies hält zwar den Puls der Hauptakteure und der Zuschauer hoch, fordert allerdings auch Fragen heraus, ob nicht zu viel Erwartung von außen in den Zweikampf hineingetragen wurde.

   Zwar war das traditionelle Schachland Russland nur mit einem Reporterteam präsent, doch insbesondere die indischen Medien reisten in Teambesetzung an. Tägliche halbstündige TV-Sendungen nach den Hauptnachrichten und Tagesberichte in Zeitungen mit Millionenauflage sind paradiesische Rahmenbedingungen, von denen man in Europa nur träumen kann. Will der Schachsport stärker in das Rampenlicht, dann müssen die Protagonisten auch unter erhöhtem Medieninteresse ihr bestes Spielniveau erreichen. Kein Weltklasse-Großmeister sollte sich hinter dem Argument verstecken, dass der Druck von außen ein wichtiger Faktor ist, wenn man nicht das übliche Spielniveau erreicht. Ein Schachprofi der Extraklasse muss "Aufgeregtheiten" bewältigen können: Tiger Woods, Pete Sampras und Air Jordan sind eben wegen dieser Fähigkeiten die coolen, gefeierten Stars ihrer Szene, die die höchsten Saläre einstreichen. So betrachtet kann das "Duell der Weltmeister" unter Umständen sogar eine Lehrstunde für die beiden aktuellen Weltmeister werden. Spannung allein ist kein Kriterium, gutes Schach darf erwartet werden - oder wer würde nicht aufschreien, wenn Tiger Woods an einem Fünfer-Loch seinen Kontrahenten mit 10:11 Schlägen besiegt?

   Die Weltmeister rangen nach Erklärungen. "Ich patze in jeder Partie etwas ein, bevor ich anfange, mich gut zu verteidigen. Ich weiß nicht, warum", bilanzierte Anand. Kramnik befand: "Meine stets knappe Zeit ist nicht der Grund für das niedrige Niveau. Wir sind beide sehr aufgeregt. Würden wir in der Küche allein gegeneinander spielen, wären wir sicher sehr viel besser. Die Medien bringen unheimlichen Druck rein. Solch einen Unfall wie in der siebten Partie habe ich noch nie erlebt. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass mir so etwas in einer Blitzpartie passierte." "Der Zweikampf ist ein Spiel der Nerven. Es steht viel auf dem Spiel, obwohl es keiner sagt", äußerte Jussupow unmittelbar nach der siebten Begegnung.

   Gesprächsstoff boten beide Samstagspartien im Übermaß. In der siebten Begegnung wich der Russe mit den schwarzen Steinen von den offenen Systemen ab. Eine Überraschung bildete der frühe Damenausfall nach b6. Niemals zuvor hatte der Russe dieses Eröffnungssystem angewandt, welches in den 90er Jahren insbesondere von Großmeistern aus den baltischen Staaten popularisiert wurde. Mit 8.f4 trat der Inder sofort mit einem aktiven Zug auf den Plan. Seine Absichten versteckte Anand nicht, die Rochade wurde aufgespart, ein Bauernsturm auf dem Königsflügel sollte die Entscheidung bringen. Doch just als der Aufmarsch mit der weißen kurzen Rochade abgeschlossen werden sollte, patzte der "Tiger aus Madras". Mit dem Springeropfer als Zwischenzug riss Kramnik nicht nur einen Bauern an sich, sondern eine dauerhafte Initiative. Nach diesem Wendepunkt hatten beide Spieler noch 18 Minuten Restbedenkzeit zu Verfügung. Nun verkrampfte der Russe: Zehn Züge später blieben Weiß noch 15:18 Minuten, Schwarz 8:00. Anand überführte seinen Springer nach h5 und träumte von Schwindelchancen. Vier weitere Minuten kostete den Braingames-Weltmeister die Replik 28...Dd6. Anand überreizte erneut, was einen zweiten Bauern einstellte. Nach 29.e5 kassierte Schwarz den Bauern ein, denn 30.Ld4 wäre mit 30...Lc5 gekontert worden. Doch auch dieser zweite Blackout führte nicht zum Knockout. Kramnik ersann einen seltsamen Plan, indem er seinen Turm zur Verteidigung auf f7 stellte. Die weißen Figuren hatten einen wesentlich größeren Aktionsradius. Nach Zug 39 und mit dem krassen Zeitungleichgewicht (13:13 Minuten für Weiß gegenüber 0:56 Minuten für Schwarz) wirkte Kramnik geschockt. Die zusätzlichen zehn Sekunden garantierten zumindest noch den sicheren Weg zum Remis. Die Kommentatoren fanden keine schlüssige Erklärung. Ihr Blick richtete sich bereits nach vorne: "Wer wird durch diese Partie mehr demoralisiert sein?"

   Zunächst keiner, denn - wie in allen Partien mit Anand als Verteidiger - kam ein Angenommenes Damengambit auf die Tagesordnung. Noch im Turniersaal gab die Online-Verbindung von Pocket Fritz Auskunft, dass Anand die Variante auch bereits mit Weiß gespielt hatte beziehungsweise dass 11...Td8 noch nie gezogen wurde. Kramniks Vorgehen erinnert wieder einmal sehr an den Stil seines Landsmannes Anatoli Karpow, der für das Ansammeln kleiner, unscheinbarer Vorteile bekannt ist. Später verwarf Anand den Turmtausch im 15. Zug - die verbliebenen weißen Leichtfiguren waren besser koordiniert und nahmen die Bauern am Damenflügel aufs Korn. Doch wiederum konnte Kramnik mit einem Zeitbonus nichts anfangen. Im 21. Zug hatte er sechs Minuten mehr zur Verfügung, bei Zug 33 waren beide gleichauf und im 40. war der Weißspieler mit fünf Minuten im Hintertreffen (3:02 Minuten gegen 8:24). Genau in dieser letzten Phase fand er keinen Durchbruch; mit jedem Bauernabtausch in einem Springerendspiel verbesserte Anand seine Remischancen. Der weiße Mehrbauer verlor seine Kraft - der König konnte nicht mehr am Königsflügel eingreifen, nachdem 39.f4 die Stellung blockierte. Mit Augenkontakt wurde das Remis vereinbart, der Händedruck war ein moralischer Sieg für den ideenreich verteidigenden Inder. "In der zweiten Partie habe ich ganz schlecht gespielt. Ich glaubte, das Springerendspiel sei leicht gewonnen. Ein Trugschluss", erklärte der Moskauer. Auf die Frage, was wohl die Nummer eins der Weltrangliste, Garri Kasparow, zu diesen Vorstellungen meine, grinste der Inder und ulkte: "Ich bevorzuge es derzeit, nicht auf seine Webseite zu gehen ..." Prosaisch umschrieb der "Tiger von Madras" die mangelnde Konstanz seiner Darbietungen: "Es scheint, als ob ich das Spiel zu leicht nehme, bis jemand mit der Peitsche kommt, dann fange ich an zu galoppieren." Jedenfalls hatte er ausreichend Standfestigkeit bewiesen, um seiner Frau Aruna nicht den Geburtstag zu vermiesen.

   Die Gedanken richteten sich schon auf einen unentschiedenen Match-Ausgang und die mögliche Belastung, so lange spielen zu müssen, bis ein Sieger feststeht. Zunächst sollten es 10 Minuten plus 5 Sekunden sein, aber Kramnik gab sofort zu bedenken, dass dies nach zwei weiteren aufreibenden Schnellschachpartien zu anstrengend werden könnte. Beide Spieler "koalierten" prompt, um die Zusage zu erhalten, eine Verlängerung mit Blitzpartien mit 5 Minuten plus 5 Sekunden hinter sich bringen zu dürfen.

 

Gesicht wahren

5. Matchtag

 

   Die Einigung über die Tiebreak-Modalitäten schien dazu beizutragen, einen gütlichen Gleichstand im Match anzustreben. Mit zwei wenig spektakulären Remisen verlor keiner der Akteure seine Reputation. In der neunten Partie bewegte man sich lange auf vertrautem Terrain. Kramnik kopierte Kasparow, und Anand blieb sich im Angenommenen Damengambit treu. In Wijk aan Zee 1999 hatte der Fide-Weltmeister dem Weltranglistenersten in 22 Zügen ein Remis abgenommen, bevor er ein paar Monate später damit gegen Kramnik verlor. In Dos Hermanas 1999 akzeptierte er beim weißen Bauernvorstoß nicht die Annahme des Opfers auf d5 und ging aufgrund der starken weißen Drohungen eines Bauern verlustig. Diesmal folgte man 17 Züge lang dem Vorläufer gegen Kasparow, ließ die Stellung jedoch mit einer Abtauschorgie alsbald verflachen. Kramnik ist eben ein solider Spieler. Sein spanischer Sekundant Miguel Illescas, der in Barcelona eine Schachschule betreibt, zeigte Kramnik indes sicher sein anno 1997 in Leon gegen Anand ausgepacktes Qualitätsopfer. Dieses erwies sich allerdings als überambitioniert.

   Die kurze Spieldauer gab den Kontrahenten eine etwas längere Pause, doch im letzten Schnellschach-Vergleich wollte Kramnik nichts anbrennen lassen - mit Russisch signalisierte er, dass Betonstil angesagt war. Auch diesmal gab es eine lange Theorievariante - 16 Züge hatten Alexej Schirow und "Chefkommentator" Jussupow Vorbild gestanden. Scheinbar hatte der Inder die vom Russisch-Kenner Jussupow im Informator vorgeschlagene Idee, mit dem Turm auf e6 zu nehmen, nicht abrufbereit. Nachdem De6 geschehen war, reichte man sich zwei Züge später die Hände. Mit Erleichterung quittierte man das Unentschieden, der Tiebreak musste nur noch über das Siegerjackett entscheiden, denn nach die Pflicht waren beide im Soll.

 

Anand blitzt sich locker zum Tiebreak-Sieg

 

FIDE-Weltmeister Viswanathan Anand

FIDE-Weltmeister Viswanathan Anand

  

   Kramnik entschied sich, die Variante aus Partie sieben zu wiederholen - Sizilianisch mit frühen Damenausflug nach b6. Ein Fehler! Anand war diesmal besser vorbereitet. Aufrecht am Brett sitzend hämmerte er seine Züge heraus - Bauernsturm bei entgegengesetzten Rochaden, was sonst? Seine Entschlossenheit lähmte Kramnik auf der Suche nach Rettung. Mit dem Bauernopfer auf g6 legte Anand den schwarzen Monarchen bloß. Die vielen Drohungen konnte Kramnik trotz intensiver Suche nicht mehr parieren, denn Anands Drohungen lagen überall das Brett: offene h-Linie, offene f-Linie und eine verwundbare Diagonale a2-g8. Da wurde kurzer Prozess gemacht, wie in seinen besten Jugendjahren, als ihm wegen seines schnellen, ideenreichen Spiels in indischen Schachkreisen der treffende Spitznahme „Lightning Kid" verpasst wurde.

   Auch in der zweiten Verlängerungspartie stand Kramnik neben sich, als er seinen Damenspringer "einmauern" ließ. Angesichts der unterentwickelten Leichtfiguren boten sich dem Russen keine Gewinnperspektiven. Zwar gelangte der Königsturm schnell ins Spiel, doch platzierte dies den weißen König genau dort, wo keine einige Figur zur Verteidigung anwesend war. Auch diese "Einladung" erspähte Anand in Sekunden und handelte entsprechend seinem Stil: Figurenopfer für Königsangriff und Treibjagd auf die Majestät. Der Fide-Weltmeister begnügte sich am Schluss - in klarer Gewinnstellung - mit einem Dauerschach. Mehr benötigte Anand schließlich nicht gegen den tapfer kämpfenden Braingames-Weltmeister. Warmer Beifall brandete für den erfolgreichen Titelverteidiger der Chess Classic auf.

   Auf der Abschlusspressekonferenz beklagte der Sieger, dass er "sich nur in gefährlichen Situationen konzentrieren konnte". Kramnik meinte, ihm hätten die Aufs und Abs wenig beunruhigt, zumal die Zuschauer solche Wechselbäder genießen würden. Schließlich gebe es einen Unterschied zwischen Spielern: "Schwache Spieler zählen ihre verpassten Chancen, starke Spieler zählen ihre Punkte." Unter dem Strich bleibt eine akzeptable Bilanz und der Schachgemeinde viel Gesprächsstoff, um über die Wendepunkte im Duell der Weltmeister zu debattieren. Derzeit agieren sie jedenfalls im Schnellschach auf Augenhöhe.

   „Große Tage für das Schach und Mainz" konstatierte auf jeden Fall Oberbürgermeister Jens Beutel. Der ehemalige Mombacher Oberligaspieler "will 2002 erneut solch einen Event von Motor Hans-Walter Schmitt" organisieren lassen. Der Hauptsponsor der Chess Classic, die Landesbank Rheinland-Pfalz zeigte sich ebenfalls "sehr glücklich über die Resonanz". Dennoch betonte Jürgen Pitzer, sein Unternehmen müsse analysieren, wie hoch das Engagement in Zukunft ausfalle. Im Hintergrund wird bereits von weiteren zahlungskräftigen Sponsoren gemunkelt, die den Etat in den siebenstelligen Bereich wachsen lassen könnten. Weil zudem die Stadt Mainz mit der Rheingoldhalle - anders als Frankfurt - eine von allen Seiten gelobte Spielstätte zur Verfügung stellt, scheint eine Rückkehr der Chess Classic in die Main-Metropole ausgeschlossen. Rund 4.000 Zuschauer beziehungsweise Spieler bei allen Wettbewerben bedeuten einen leichten Rückgang gegenüber dem Vorjahr, als erstmals in der Schach-Geschichte die kompletten Top Ten antraten. Millionen von Fans im Internet, die die Partien live verfolgen beziehungsweise zum Nachspielen herunterladen, und die gestiegene Resonanz in den Printmedien sind jedoch für die Sponsoren wichtiger.


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