Sensationelle Niederlage Kasparows bietet NAO Paris MatchballHuzman bezwingt Weltranglistenersten nach zwei Stunden * Deutsche Teams gebeutelt * Führungswechsel bei den Damenvon Harald Fietz, Oktober 2003 |
Garry Kasparow übersah eine einfache taktische Kombination. Foto: Harald Fietz
Es war der Tag der Nervosität, die Vorschlussrunde bei den Europacups für Vereinsmannschaften. Bereits nach vier Stunden zeichneten sich die meisten Mannschaftsergebnisse ab. Der Schlag ins Kontor war sicher die schnellste Turnierniederlage, die der Weltranglistenerste Garry Kasparow jemals erlitten hat. Nach zwei Stunden stürmte er aus dem Turniersaal und ward nicht mehr gesichtet. Seine Kollegen von Ladia Kasan konnten mit einem 3:3 gerade noch die Mannschaftsniederlage abwenden, doch NAO Paris setzte sich dadurch vor der Schlussrunde allein an die Tabellenspitze, weil sie die Hürde Tomsk-400 souverän mit 4,5:1,5 nahmen. Die deutschen Teams erlebten ein Waterloo. Werder Bremen unterlag dem serbisch-montenegrinischen Team von Kiseljak 2:4, die Schachfreunde Neukölln hatten beim 1:5 gegen Alkaloid Skopje an allen Brettern einen durchweg schlechten Tag. Im Damenwettbewerb verlor der bisherige Tabellenführer NTN Tiblissi gegen Titelverteidiger BAS Belgrad mit 1,5:2,5, wodurch Internet Podgorica zu diesen beiden Teams nach Mannschaftspunkten aufschloss, aber nach Brettpunkten 1,5 Punkte Vorsprung hat.
Svetlana Matwejewa durchkreuzte die Siegesträume der Georgierinnen aus Tiflis. Foto: Harald Fietz
Das Thema des Tages blieb aber die drastische Niederlage des bisher überragend aufspielenden Garry Kasparow. Nach vier Siegen in Folge (und einer Zwischenperformance von 3014!) erwartete eigentlich jeder, dass er gegen die vermeintlichen Außenseiter von Beer-Sheva (Platz zwölf der Rangliste) wiederum die tragende Kraft sein wird, um einen Mannschaftssieg zu ermöglichen bzw. das Brettpunktepolster von zwei Punkten auszubauen. Doch just das Gegenteil trat ein. Wie sein israelischer Gegnern Alexander Huzman angab, spielte der beste Spieler heuer eine ungewöhnliche Variante und parkte früh zwei Bauern ein. Da dies mit einer positionellen "Ruine" einherging, verwaiste das Spitzenbrett bereits nach zwei Uhrenumdrehungen. In einer für einen Mannschaftskampf eigentlich unüblichen Art mussten, die Großmeisterkollegen die Suppe auslöffeln, denn Kasparow mochte nicht mehr durch Anwesenheit moralische Unterstützung geben. Nachdem Alon Greenfeld und Ilja Smirin Frieden schlossen, verschlimmerte sich die Lage Kasans weiter, da Sergei Rublewski gegen Boris Avrukh die Türme aufgegabelt bekam. Mit 0,5:2,5 drohte der völlige Absturz. Doch Dortmund-Sieger Viorel Bologan schaffte gegen Michael Roiz den Anschluss, während Andrei Charlow fünf Minuten vor der ersten Zeitkontrolle nur ein Remis einfuhr. Aber die Zeitnot von Mark Tseitlin nutzte Artyom Timofeev fast zeitgleich, um eine Mattattcke zu starten. Nach vier Stunden blieben lange Gesichter bei Kasan, obwohl man mit einem blauen Auge davor gekommen war. Ursächlich dafür war der absehbare Sieg der Franzosen. Nach drei Stunden hatten gegen Tomsk-400 zwar die Spitzenbretter (Grischuk und Chalifman, bzw. Swidler und Morosewitsch) durch Remisen mit 1:1 alles offen gehalten, aber sinnigerweise ein geborener Franzosen, Joel Lautier, brachte NAO gegen Valeri Filipow in Front. Michael Adams fügte den entscheidenden Punkt gegen Mikhail Kobalia hinzu und Franciso Pons Valljeco durfte Konstantin Landa beim Stand von 3,5:1,5 im Turmendspiel quälen. NAO verfügt nun als einziges Team über elf Mannschaftspunkte, während sich dahinter mit zehn Mannschaftspunkten mehrere Kandidaten für Top-Platzierungen befinden (Kasan 26,5 BP, Kiseljak 25,5 BP, Polonia 25 BP, Beer-Sheva 23,5 BP). NAO trifft am Schlusstag auf Beer-Sheva und Kasan sitzt Polonia Warschau gegenüber. Die Polen begruben mit 4:2 die Hoffnungen von Titelverteidiger Bosna Sarajewo, wobei insbesondere Wassili Iwantschuk am Spitzenbrett gegen den neuen Weltranglisten-Vierten Jewgeni Barejew eine souveräne Leistung bot. Heute darf sich Kasparow auf seinen ukrainischen Angstgegner freuen.
Boris Avrukh unterstrich gegen Rublewski erneut seine Killer-Mentalität. Foto: Harald Fietz
Kiseljak puschte sich auf Kosten von Werder Bremen in eine Spitzenposition. Mit 4:2 rangen die Serben die Norddeutschen nieder. 1:3 stand es zur Zeitkontrolle nach zwei Remisen durch das Tschechen-Duo Zbynek Hracek und Vlastimil Babula (gegen Zoltan Almasi bzw. Aleksei Alexsandrow) bzw. zwei Verlusten durch Sven Joachim und Jabob Heissler (gegen Alexei Fedorov bzw. Mladen Palac). Über fünf Stunden kämpfte im grün-orangen Fußballtrikot Rainer Knaak vergeblich gegen Predrag Nikolic, um letztlich ebenso wie Luke McShane die Punkte zu teilen. Der englische Shooting-Star der Schachszene im vergangenen halben Jahr hatte dabei möglicherweise einen studienartigen Gewinn im Endspiel Turm gegen zwei Bauern ausgelassen.
Verpasste Möglichkeiten kennzeichneten auch den Kampf des zweiten deutschen Vertreters, den Schachfreunden Neukölln, die mehr in petto hatten, als das klare 1:5 vermuten lässt. Martin Borriss geriet zwar schnell gegen Trajce Nedev unter die Räder, doch Lars Thiede holte einen ersten halben Punkt gegen Dragoljub "Goldkettchen" Jacimovic. An seinen Nachbarbrettern standen Dirk Poldauf und Jan-Dietrich Wendt gut bzw. unklar. Obwohl "Poldis" Gegner Zvonko Stanojovski schwer beeindruckt vom unorthodoxen Angriffspiel des aus Positionsspieler geltenden Schach-Journalisten war, fand sich kein Weg den eingekeilten König auf makedonischer Seite zur Strecke zu finden. Selbst die vielköpfige Tavernenanalyse brachte kein brauchbares Abspiel ans Licht. Derweil erlebten die Spitzenbretter ihre Gefühlswechsel. Insbesondere Rainer Polzin haderte mit ausgelassenen Chancen entlang der Skala Remis bis Mattangriff. Sein sachlich-ruhiger Gegner Vladimir Akopian sah einfach zu, wie das Neuköllner Spitzenbrett die Chancen ausließ, stellte sich aber in sportlich vorbildlicher Manier einer ausführlichen Nachbetrachtung. Das war bei Stephan Berndt gegen Vladislav Tkatchiev nicht notwendig, denn zu offensichtlich verließ der durch seine Fußverletzung gesundheitlich gehandicapte Berliner die Remisweg. Wendt muss schließlich ebenfalls die Niederlage unterschreiben. Klagen, vergessen und nach vorne schauen hieß es am Abend in Reihen der Hauptstäder.
Wladimir Akopjan machte Rainer Polzins GM-Träume zunichte. Foto: Harald Fietz
Für die deutschen Mannschaften steht zum Abschluss Wiedergutmachung an. Werder wird es gegen Tomsk-400 gewiss nicht leicht haben, während Neukölln die etwa gleichstarken Engländer von Barbican mit festen Gewinnabsichten im Visier hat. Alle sind sich einig, dass sieben Runden für dieses hochklassige Feld eigentlich zwei Kämpfe zu wenig sind, um einen gerechten Sieger zu ermitteln, aber da muss man nun durch. Mal abwarten, wer heute Abend am Pool den Siegersekt schlürfen wird!
Eine Zusammenfassung der Ereignisse und eine Bildergalerie wird es erst von deutschem Boden am Dienstag geben, denn der Sonntag steht ganz im Zeichen der ausführlichen Berichte für "Schachmagazin 64", welches am kommenden Wochenende bereits am Kiosk erhältlich sein wird und die dramatischen Tage in einer ersten Bilanz aufarbeitet. Zwei Wochen später erscheint eine Nachlese mit vielen Hintergründen und exklusiven Analysen. Schließlich fand auf Kreta das Top-Event des Schachjahres 2003 statt!