Europas Schachclubs vereint unter der Sonne KretasSibirisches Team von Norilsky Nikel erobert souverän die kontinentale Kronevon Harald Fietz, Oktober 2001 |
Wie erwartet spielte sich der Kampf vorne zwischen den fünf besten Mannschaften ab, die - außer dem 15-jährigen Nachwuchshoffnung IM Jewgeni Alekseev am hinteren Brett bei St. Petersburg - ausschließlich Großmeister aufgeboten hatten. Zwar konnte Werder Bremen mit einem sehr guten Start von 7:1 und Merkur Graz mit 6:2 Mannschaftspunkten anfangs mithalten, doch hatten sie nicht das Stehvermögen der Mannschaften von Danko Donbass (Ukraine), Kiseljak (Bosnien) oder Beer Sheva (Israel), auch einem der großen Teams gefährlich zu werden. Nach zwei Pflichtsiegen gegen Slovan Bratislava mit 5:1 und Alkaloid Skopje mit 4,5:1,5 trumpfte Norilsky Nikel gleich dreimal mit dem selben Ergebnis von 4,5:1,5 auf: Polonia Warschau, Bosna Sarajevo und Werder Bremen kamen unter die Räder.
Und dann spitzte sich das Turnier in der sechsten Runde zu: Mit 10:0 Mannschaftspunkten (MP) und 23 Brettpunkten (BP) traf man auf St. Petersburg, das bereits in der dritten Runde einen Mannschaftspunkt gegen Donbass abgegeben hatte, und mit 9:1 MP und 19,5 BP der letzte Stolperstein hätte werden können, da die Norilsker nicht mehr auf die unmittelbar folgenden Teams aus Warschau und Sarajevo treffen konnten. St. Peterburg musste gewinnen und überraschte bereits mit seiner Aufstellung - Viktor Kortschnoi wurde im wichtigsten Kampf nicht eingesetzt. Folgende Startformationen saßen sich gegenüber (Norilsk erstgenannt):
Sergei Dolmatow (2578) |
- |
Alexander Khalifman (2699) |
Alexander Grischuk (2669) |
- |
Peter Swidler (2695) |
Sergei Rublewski (2639) |
- |
Konstantin Sakajew (2630) |
Vadim Swjaginzew (2638) |
- |
Jewgeni Pigusow (2613) |
Wladimir Malkhow (2637) |
- |
Sergei Volkow (2578) |
Alexander Rustemow (2607) |
- |
Sergei Ivanow (2556) |
Nach dem Verlauf der ersten fünf Runden musste man das Team aus Sibirien in der Vorhand sehen. Dolmatow hatte das Spitzenbrett sicher mit einem Sieg und drei Remis verteidigt, Grischuk war zu diesem Zeitpunkt mit vier Siegen und einer Punkteteilung richtig in Fahrt, ähnlich wie Rublewski, der drei Siege und zwei Unentschieden aufwies. Die untere Hälfte rotierte mit dem Ersatzmann Igor Glek und hatte - wie auch in der Bilanz nach sieben Runden - keine Partie verloren.
Anders sah es bei den Recken aus dem "Venedig des Nordens" aus: Alexander Khalifman schien überhaupt nur für Kurzremis dabei zu sein, Peter Swidler war zwar in fünf Partien ungeschlagen, hatte aber nur einmal gewonnen. Konstantin Sakajew und Jewgeni Pigusow spielten vor dem Spitzenduell mit 4/5 und 3,5/5 vermeintlich routiniert sicher. Unabwägbar waren die beiden hinteren Brett, wo Volkow eben ausgesetzt hatte, nachdem er in Runde vier gegen den georgischen GM Tamasz Gelishvili in Reihen des bosnischen Teams von Kiseljak eine Null kassiert hatte. Sergei Ivanow spielte erst zweimal und hatte einen Sieg und ein Remis auf seinem Konto. Der St. Petersburger Kapitän Konstantin Asejew war nicht zu beneiden: Einerseits pausierte der erfahrende Viktor Kortschnoi, nachdem er in der vierten Runde wenig mannschaftsdienlich erst nach riskanten Spiel in ein zuvor mit Dauerschach erreichbares Remis eingewilligt hatte und dann in der fünften Runde seine zweite Niederlage gegen Waleri Filippow verursachte. Anderseits schien das Mannschaftsgefüge wenig intakt, da Khalifman zumeist als hektischer Wortführer Anweisungen an den Rest der Mannschaft gab.
|
Alexander Khalifman
Ganz anders die Norilsker: Hier
galt unumstritten die Order von GM Sergei Smagin, der als Spiritus Rector
im Auftrag der Manager des metallurgischen Betriebs "Norilsky Nikel" das
"Team aus dem Nichts" zusammengestellt hat, und damit seiner
300.000-Einwohner-Geburtsstadt einen prestigeträchtigen Titel heimbringen
sollte. Bereits bei der russischen Mannschaftsmeisterschaft in Tomsk im Mai
2001 war man der Mannschaft aus Russlands zweiter Metropole auf den Fersen.
Damals endete der direkte Vergleich noch mit 3,5:2,5 zu Gunsten der Mannschaft
von der Ostsee, was gleichbedeutend mit dem Titel vor Norilsky Nikel und
Gazovik aus dem sibirischen Tjumen war. Doch unter der Sonne Kretas profitierte
man von der angesäuerten Mannschaftschemie beim großen Rivalen
und vom Vertrauen in die eigenen Kräfte. Und Stärke brauchte man,
als Shooting Star Grischuk von einem urplötzlich inspirierten Peter
Swidler völlig schwindlig gespielt wurde, nachdem Brett eins das
obligatorische Kurzremis vorgelegte und auch Pigusow und Swjaginzew nach
16 Zügen einen Waffenstillstand vereinbarten.
Doch nun - bei 1:2 Rückstand - kam die Zeit für den Gegenschlag und dieser war wohlüberlegt. Genau auf zwei Schwachpunkte zielte der Tabellenführer, derweil Alexander Rustemow an Brett sechs mühelos die Angriffsversuche von Sergei Ivanow abwehrte. Es spricht für die ausgeklügelte Mannschaftsstrategie der Nikel-Truppe, dass sie in der entscheidenden Situation verstand, die Unsicherheiten im Team von St. Petersburg zu nutzen. Es gelang sogar, das Optimum zu erzielen, in dem Sergei Rublewski und Wladimir Malkhow beide den vollen Punkt holten. Es offenbarte sich, mit welchen einfachen Mitteln der amtierende russische Mannschaftsmeister zu knacken war. Weil Mannschaftskämpfe immer von einem Band gegenseitiger Abhängigkeiten geprägt sind, wurde Sergei Volkow als Angriffsziel Nummer eins auserkoren. Die Erklärung ist simpel: Wer im Top-Team der Schachnation Russland an Brett fünf seinen Dienst versieht und nach einer Niederlage in Runde vier aussetzen muss, der hat einen zusätzlichen psychologischen Ballast zu tragen, weil er innerhalb seiner Mannschaft unter hohem Rechtfertigungsdruck steht. Der Gewinner des prestigeträchtigen russischen Pokalturniers 2000 war diesmal der Anspannung nicht gewachsen und musste auch in der letzten Runde eine verheerende Niederlage hinnehmen, als er beim 3:3 gegen Beer Sheva vom Israeli Victor Mikhalevski völlig überspielt wurde und entscheidend dazu beitrug, dass seine Mannschaft nicht einmal den Bronzerang belegte.
|
Malakhow,W (2637) - Volkow,S (2578) [C05]
|
Sergei Rublewski |
Und weil sich Volkows König ab Zug 30 im Kreuzfeuer der weißen Schwerfiguren befand, agierte Sergei Rublewski mit der Absicherung, dass ein Remis reichen würde, einen Mannschaftspunkt Vorsprung zu retten. Es kam aber noch grausamer für die St. Petersburger. Nachdem Volkows Stellung in der Manier einer Königsjagd des 19. Jahrhunderts kollabierte, war Konstantin Sakajews Vorrat an Glück - sicher bisweilen gepaart mit Können - abgelaufen. In Runde eins überlebte er mit Weiß in Zeitnot eine Stellung, in der ihn der Neuköllner Rainer Polzin völlig überspielt hatte. In Runde zwei musste er gegen Kamil Milton vom zweiten polnischen Vertreter Schachvereinigung Plock mit Turm und Läufer gegen Dame Remis halten. In dritten Runde misslang ihm, beim Remis mit einem Mehrläufer zwei verbundene Freibauern des Ukrainer Wladimir Balkan aufzureiben. In Runde vier gewann er trotz Minusqualität eine Partie gegen Mladen Palac und nur in der fünften Runde erzielte er einen Angriffssieg gegen seinen Landsmann Alexander Lastin von Gazovik. Nun war er in einer prekären Lage: Volkow auf der Verliererstrasse und ein Remis nicht ausreichend. Sakajew versuchte - wie ein Tennisspieler an der Grundlinie - alle schwarze Figuren auf der sechsten bis achten Reihe zu halten. Der Konter in gedrückter Stellung misslang; Rublewski konnte mit einem Mehrbauern locker ins Turmendspiel übergehen und den Siegpunkt für seine Mannschaft einfahren. |
|
Rublewski,S (2639) - Sakajew,K (2630) [C03]
|
Letztlich wurde es ein Durchmarsch
von Norilsky Nikel aus Sibirien, weil sich die Konkurrenten gegenseitig
neutralisierten oder - im Falle von St. Petersburg - unzureichende
mannschaftliche Geschlossenheit an den Tag legten. Die weiteren
Spitzenmannschaften verzeichneten unterschiedliche Turnierverläufe.
Silbermedaillengewinner Polonia Warschau startete nach der Ernüchterung
gegen Norilsky Nikel einen Endspurt mit vier Erfolgen: 4:2 gegen
Österreichs SK Hohenems, 4,5:1,5 gegen das andere Team aus der
Alpenrepublik, Merkur Graz, 4,5:1,5 gegen ASA Tel Aviv und 4:2 gegen Kiseljak.
In 24 Partien dieses Schlussspurts ging keine Partie verloren. Sicher ein
verdienter zweiter Platz eines homogenen Teams mit der Mutter des
Großmeisters Bartlomiej Macieja als Leiterin, die 12 MP und 26,5 BP
bilanzieren konnte. Nur gegen den Turniersieger standen in den Ergebnislisten
drei Nullen. Auf den Bronzerang hievte sich das zweite sibirische Team Gazovik.
Durch ein 4:2 gegen Plock verdrängte man Danko Donbass, die sich
notgedrungen auf ein Schlussrundenmannschaftsremis gegen Nikel eingelassen
hatten. 11 MP und 27 BP zeigen die kämpferische Einstellung, der von
den bundesligaerfahrenen Viktor Bologan und Alexander Onischuk angeführten
Mannschaft. Die gleiche Anzahl von Mannschaftspunkten, aber nur 25 BP, brachten
die Donbass-Ukrainer zusammen. Hier leisteten sich man sich einige Remis
zuviel. Für seine Ansprüche enttäuschend verlief der Auftritt
des Titelverteidigers Bosna Sarajevo, der nach der Abfuhr gegen Nikel in
der Vorschlussrunde gegen Donbass mit 2:4 den kürzeren zog. Besonders
unzufrieden wird Kozul mit 50% der Punkte aus sechs Partien gewesen sein.
Bei den Niederlagen bezogen jene Spieler eine Niederlage, die ansonsten
über 70% der Punkte holten (Drejew, Smirin, Sokolov). Das letzte Team
mit einer zweistelligen Mannschaftspunktzahl, St. Petersburg, hatte keinen
Stammspieler, der diese Prozentzahl schaffte. Einzig die jugendliche Reserve,
Jewgeni Alekseev, blieb mit 2,5/3 ein Lichtblick.