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Entfesselter Kampfgeist und ideologische Ränkespiele

Ohne K&K stürmt die Schachelite und stellt die Gralshüter des klassischen Schach ins Abseits

von Harald Fietz, Fotos von Harald Fietz und Hartmut Metz

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

   „Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch", heißt das Sprichwort. Und was passiert, wenn die Nummer eins und zwei der Schachwelt an den beiden bedeutendsten Turnieren um den Jahreswechsel 2001/2002 nicht teilnehmen? Es scheint, der Rest der Weltspitze ist erleichtert und praktiziert kompromissloses, kämpferisches Schach - mit brillanten und reichlich fehlerhaften Facetten. Und dies obwohl sie via Internet die "Predigten" des höchsten Würdenträgers auf der Weltrangliste aus dessen Moskauer Schmollwinkel zur Kenntnis nehmen muss.

   Eine Virus-Erkrankung hinderte Garri Kasparow am Einsatz in Wijk aan Zee. So blieb ihm Zeit, "Giftpfeile" in verschiedene Richtungen zu senden. Sein Bezwinger Wladimir Kramnik redet zwar auch der klassischen Zeitkontrolle das Wort, besitzt aber wenig vom Missionarseifer seines Vorgängers. Er kommentiert lieber brav den Wechsel der Lizenz seines Weltmeistertitels von Braingames zur Einstein-TV-Gruppe, einem Multimedia-Unternehmen im Bereich des digitalen Fernsehen. Mit Aussicht auf neue Präsentationsmöglichkeiten spricht der Weltmeister der Privatwirtschaft von "neuer Dimension" und hofft auf eine Popularisierung des königlichen Spiel - besonders unter Kindern. In seiner Lage kennt Kasparow solche Gelassenheit nicht. Forderungen nach einem Revanchekampf blieben substanzlos, die FIDE-Weltmeisterschaft fand trotz radikal verkürzter Bedenkzeit regen Zulauf und auch die Betreiber der unabhängige WM installieren eifrig einen regulären Herausforderermodus. Da bleibt einzig die Warte mit der Hausnummer 2838, um den Zustand der Schachwelt zu reflektierten - natürlich immer die dringend notwendige Rechtfertigung der eigenen Position im Hinterkopf. Er hat verinnerlicht, dass sich nur dem, der halbwegs in der Rolle der moralischen Instanz akzeptiert wird, die Option öffnet, an der Spitze einer Gegenbewegung zu stehen.

   Um zwei Themen kreisen Kasparows Argumente, wenn er das klassische Schach bewahren will: 90 Minuten plus 30 Sekunden pro Zug führen zu einem Pseudo-Schnellschach und die neuen Titelträger sind keine würdigen Nachfolger in seiner Traditionslinie. Ursache hierfür ist die Quasi-Privatisierung des Weltschachverbands durch den Präsidenten Kirsan Iljumschinow und die Abhängigkeit von seiner Privatschatulle. Was immer die nach den olympischen Spielen schielenden Motive des kalmückischen Präsidenten sein mögen, selbst Kasparow diskutiert sie nicht. Sein Augenmerk gilt in erster Linie dem Niedergang der Qualität. Aber damit lässt es der Einzelkämpfer leider nicht bewenden - und hier wird es bedenklich. Er vermengt rationale Argumente gegen das neue Zeitregime mit einer voreiligen Abqualifizierung des neuen FIDE-Weltmeisters Ruslan Ponomarjow - dabei sind sich, eigentlich unvorstellbar, die Nummer eins und der jüngste Weltmeister aller Zeiten noch nie begegnet. Doch Garri Kasparow, auch ein Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht an irgendwelche demokratische Umgangsformen gewöhnt, muss seine Anliegen mit einer Wagenburgmentalität verteidigen - so sehr schmerzt der Verlust des Titel und die Aussicht, nirgendwo mehr in einen Titelrennen in den Ring steigen zu können.

 

Ruslan Ponomarjow

Ruslan Ponomarjow ist Kasparow noch nie begegnet!

 

   Jenseits seiner beiden "Schussrichtungen" ereignete sich in Wijk aan Zee, dem ersten Meilenstein im Schachjahr 2002, Merkwürdiges: Zwar traten nur drei Spieler der aktuellen Top Ten an; trotzdem - oder gerade deswegen - erlebten Zuschauer vor Ort und im weltweiten Netz ein faszinierendes Kopf-an-Kopf-Rennen. Es muss allerdings angemerkt werden, dass die Organisatoren des niederländischen Prestigeturniers der FIDE das Zugeständnis abtrotzten, dass der Wettbewerb ausgewertet wird, obgleich nach dem alten Zeitmodus (2 Stunden für 40 Züge plus eine Stunde für 20 Züge plus 30 Minuten für den Rest) gespielt wurde.

Jewgeni Barejew

Der Moskauer Jewgeni Barejew spielte das beste Turnier seiner Karriere!

 

   Unter diesen Konditionen waren gleich fünf Spieler in Reichweite der Spitze: Adams, Morosewitsch, Barejew, Grischuk und Chalifman lieferten sich hochklassige Duelle. Knapp 60% der Partien dauerten 39 oder mehr Züge. Kampfgeist hieß das Gebot der Stunde, trotzdem die Remisquote nicht unüblich knapp über 60% lag. Durchgesetzt hat sich der, der den besten Endspurt hatte. Niemand außer Jewgeni Barejew bilanzierte drei volle Punkte aus den letzten vier Runden. Als Shooting-Star Anfang der 90er Jahre mit einem Hattrick in Hastings rückte der Moskauer danach in den Hintergrund, denn die Eliteturnier der Allerbesten wurden Mode. Doch als methodischer Arbeiter in Kramniks Sekundantenstab kam das Renommee und das Selbstbewusstsein zurück. Erreichen des Finale beim FIDE-Weltcup 2000 und Viertelfinale der jüngsten FIDE-WM sind hierbei Eckpfeiler der spielerischen und finanziellen Konsolidierung auf höherem Niveau. Machte ihn beim Vereinsmannschaftseuropacup auf Kreta im September 2001 eine 17-zügige Niederlage gegen Alexander Grischuk im bevorzugten Franzosen noch zum erbärmlichen Mitläufer im Warschauer Team, so folgte an der Nordseeküste auf den 20-zügigen Knockout gegen Ex-Weltmeister Alexander Chalifman in der gleichen Eröffnung einer jener positionellen typischen Siege, die den U-16-Weltmeister des Jahres 1982 auszeichnen. Geduldig positionell mit einer Prise Glück lautete das Erfolgsrezept, weil die unmittelbaren Verfolger gegen ihn zuviel riskierten - Kasparow lässt grüßen! Nach diesem überzeugenden Comeback fiel ihm sein typischer Sarkasmus auf der letzten Pressekonferenz leicht. Die Frage, ob dies ein bedeutendes Resultat für ihn war, konterte er mit der Antwort: "Nein - es war ein herausragendes Ergebnis, das beste Turnier meiner Karriere." Witzige Worte, wenn der übermächtige Schatten des grinsenden Kasparow nicht präsent ist.

 

   Dieser glänzt ansonsten in der Turnierarena uneingeschränkt als Fighter par Exzellenz, der sein Können, aber auch seine Arroganz, zur Schau stellt. "Auspräparieren" der Gegner und inszenierte Demonstration der Überlegenheit für die Öffentlichkeit sind seine Säulen der Vorherrschaft. Gepaart mit einer wirkungsvollen Handhabe der Medien bewirkte dies bislang eine Lähmung unter allen Kronprinzen - abgesehen vom fatalen Londoner WM-Match, in dem Kramnik einfach eine veritabele Strategie hatte - das Überraschungselement mit der Berliner Variante und das Vertrauen, dass keine Alternativvarianten mit 1.d4 in petto waren. Sein Dogmatismus ließ ihn unbeirrt gegen die Spanische Mauer rennen. Doch dieser Fauxpas blieb Kasparows einziger Ausrutscher. Derzeit bleibt ihm aber nur das Prädikat, "der" Turnierkönig zu sein. Daher rührt das Selbstverständnis, jederzeit eine selbstherrliche Belehrung der Schachöffentlichkeit raushauen zu können: Super-Mariow, wie der neue Spitzname des 18-jährigen Ukrainers im Zeitalter der Play-Station-Generation lautet, muss erst einmal zurecht gestutzt werden. Da ist sogar der Hinweis erlaubt, der Intim-Feind Chalifman hätte bei seinem Titelgewinn "besser Schach gespielt". Anand ist nicht so leicht anfechtbar, aber der vor allem mit Mannschaftsergebnissen raketenartig auf Platz sieben der Weltrangliste vorgestoßene schmächtige Jüngling aus Kramatorsk, einer 200.000-Einwohner-Industriestadt im Donez-Becken, wird definitiv für zu leicht befunden. Er habe eben Glück gehabt, dass Wassili Iwantschuk sein Gegner war und die Zeitkontrolle kam ihm als Hauptverbündeter zupass. Seine aktive und doch solide, technisch präzise Spielanlage und die ausgeprägte Fähigkeit zäh zu verteidigen sind keiner Silbe wert.

 

Garri Kasparow im Mittelpunkt

Garri Kasparow: Der Weltranglistenerste liebt es, vor den Fans und den Kollegen im Mittelpunkt zu stehen

 

   Aber selbst wenn man über die Zeitregelung geteilter Meinung sein kann; es ist nun einmal akzeptiert worden, dass die Sau in diesem Tempo durch das Dorf getrieben wird. Und dieser Weltmeister hat einen legitimen Titel, gleichwie die Qualität des Spiels war oder wie jung der Gewinner sein mag. Zweifelte jemand am Fußball-WM-Titel der Brasilianer, der 1994 nach trostlosem 0-0 im Elfmeterschießen gegen Italien gewonnen wurde oder mäkelte jemand an der 16-jährigen Hochspringerin Ulrike Meyfahrt, die bei den olympischen Spielen in München 1972 den höchsten Titel in ihrer Sportart gewann? Ausnahmetalent bricht sich Bahn - und die Spielregeln sind allen Teilnehmern vorher bekannt. Richtschnur über den Stellenwert des Erfolgs ist gewöhnlich besser die historische Betrachtung und nicht das aktuelle Ränkespiel. Ponomarjow sollte empfohlen werden, auf Linares zu verzichten. Warnend kann Chalifman ein Beispiel geben. Nachdem er im August 1999 in Las Vegas zu den höchsten Würden kam, dauerte der Feier- und Repräsentationsmarathon bis kurz vor Weihnachten - dann folgte im Januar 2000 der Dämpfer im Schnellschachmatch gegen Peter Leko. Ob sich die Geschichte wiederholen wird?

 

Alexander Chalifman

Alexander Chalifman: Der Ex-Weltmeister aus St. Petersburg mischte in Wijk aan Zee und der Kasparow-Diskussion mit!

 

   Schaut man aber auf den Kern der Sache, dann hat der Weltranglistenerste zu Recht Einspruch erhoben: Sollte diese High-Speed-Zeitregelung Bestand haben? 90 Basis-Minuten plus 30 Sekunden pro Zug ändern die Dynamik des königlichen Spiels grundlegend. Keine Atempause, keine Reflektion der erreichten Mittel- oder Endspielstellung nach Zug 40, sondern endloses Zusteuern auf die Katharsis. Muss die Erbauung und der Spaß auf 64 Feldern wirklich diesem grausamen Tempo geopfert werden? Brauchen wir um jeden Preis das Wandeln nahe am Herzinfakt? Ist nicht die hervorragend medienorientierte PCA-Schnellschach-Grand-Prix-Serie in den 90er Jahren Beweis gewesen, dass eine Gesamtdauer von höchstens einer Stunde für eine große Zuschauerschaft audio-visuell lebendig aufbereitet werden kann? Kann nicht der Schnellschach-Rhythmus mit einer Reihe bedeutender Turniere weiterhin neben dem bewährten Sieben-Stunden-Spiel existieren? Warum ein Mittelding einführen, dass bei wichtigen Wettbewerben sichtbar den Level aller Phasen nach der Eröffnung senkt?

 

Wassili Iwantschuk tief in Gedanken

Wassili Iwantschuk: Der Mann aus Lwow musste zu oft den verpassten Chancen nachtrauern

 

   Niemand der Initiatoren kann befriedigende Antworten geben. Vielleicht will das auch keiner, denn dieser Eingriff ist eine typische Funktionärstat. Kurz vor der Mannschaftsweltmeisterschaft in Jerewan im Oktober 2001 beschlossen, waren die Zeiträume bis zur WM zu knapp, eine ernsthafte Meinungsbildung unter Großmeistern einzuholen. Frühere Bestrebungen diesen Zeitmodus dauerhaft zu etablieren wurden anno 2000 durch den Druck der öffentlichen Meinung vereitelt - ein treffliches Beispiel der Mit-Kontrolle durch die vierte Macht. Vielleicht sollten wir dem "Rundumschläger" Kasparow dankbar sein, dass er die Meinungsbildung wieder entfacht hat. Das undemokratische Regime des FIDE-Präsidenten kann scheinbar nur durch öffentlichen Druck mit Argumenten bestückt werden. Dabei müssen auch die "großen Hunde" beißen, von denen Barejew & Co. sonst durch den Turniersaal gehetzt werden. Wo sind die vom Wijk-Sieger neben Kasparow so titulierten Spieler der vorderen Plätze der Weltrangliste? Nur die "Mäuse" sich mal auf dem Tisch austoben zu lassen reicht nicht, Gesicht zeigen sollte die Devise für die Avantgarde sein. Der Gral des klassischen Schachs verdient von vielen behütet zu werden.


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