Wenn Geschichte näher rücktWolfgang Unzicker streifte durch sieben Schachjahrzehntevon Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Januar 2003 |
Vier Stunden spannendes Schach, ohne dass eine Figur bewegt wurde - das gibt es selten. Doch wenn Wolfgang Unzicker das Erzählen beginnt, dann leuchten nicht nur seine Augen, sondern auch die der Zuhörer. Auf Besuch beim Berliner Lasker-Treff im Oktober durchkreuzten seine Erinnerungen die letzten sieben Jahrzehnte. "Schach war ein Lebensinhalt", resümierte er gegen Ende des Abends im Künstlerclub "Die Möwe". Der ehemalige Treffpunkt der DDR-Kulturschaffenden befindet sich im Palais am Festungsgraben, einem klassizistischen Bau aus dem 18. Jahrhundert in unmittelbarer Nähe zur Prachtstraße "Unter den Linden", und viel früher, vor 200 Jahren, war es einst Dienstwohnung des preußischen Finanzministers und Reformers Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein. Traditionslinien und Brüche der Historie bestimmten auch die Schachkarriere des 1925 im damals zu Bayern gehörenden Pirmasens geborenen Unzicker.
Wolfgang Unzicker faszinierte mit Episoden aus seiner Schachkarriere
Mit zehn Jahren erlernte er mit Unterstützung des Vaters, der von Beruf Gymnasiallehrer war, das Spiel zufällig, denn er wollte nicht Außenseiter sein. Sein vier Jahre älterer Bruder, der gegen Ende des zweiten Weltkriegs an der Ostfront fiel, konnte es schon und auch zwei gleichaltrige Freunde waren in den Sommerferien 1935 mit Eifer dabei. Dieses Umfeld spornte an und als das Nachspielen von Meisterpartien aus dem Dufresne-Lehrbuch und den Schachzeitungen gelang, gab es eine neue Lieblingsbeschäftigung. Der Besuch bei der inoffiziellen, von den Nationalsozialisten veranstalteten Olympiade in München 1936 faszinierte den nun bereits leidenschaftlich interessierten Jungen. Gebannt blickt er auf das Brett von Kurt Richter, der mit Turm- und Läuferopfer sein berühmtes Kombinationsfeuerwerk gegen den Rumänen Gheorghe Alexandrescu abbrannte.
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Richter - Alexandrescu
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Fortan wird das Buch "Richtig kombinieren!" des "Scharfrichters von Berlin" ein Quell der Inspiration. Im Rückblick hält sich Unzicker denn auch eher für einen taktisch orientierten Kämpfer als einen vorrangig strategisch ausgerichteten Spielertyp.
Weitere Begegnungen mit führenden Meistern motivierten den Schüler des Theresien-Gymnasiums: 1941 führte er bei der Münchner Einzeleuropameisterschaft am Demonstrationsbrett die Züge von Alexander Aljechin aus und verpasste im Simultan gegen den Weltmeister knapp das Remis. Von der Schachlegende ist ihm der Eindruck geblieben, dass "er persönlich nicht leicht zugänglich war", aber das Analysieren sehr genoss. Nach Niederlagen war es allerdings beim zu cholerischen Reaktionen neigenden gebürtigen Russen anders, wie Paul Keres Unzicker anlässlich seiner berühmten Begegnung aus Margate 1937 erzählte. Das Damenopfer als Gewinnzug konnte der Este nicht mehr ausführen, denn als sich seine Hand der Dame auf d3 näherte, um mit dieser den gedeckten Läufer auf d7 zu entfernen, schnellte schon die Hand Aljechins herüber und wutschnaubend stürmte dieser geradezu aus dem Saal, um 20 Minuten später zurückzukehren und seelenruhig Varianten anzuschauen.
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Keres - Aljechin, Margate 1937
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 d6 5.c4 Ld7 6.Sc3 g6 7.d4 Lg7 8.Le3 Sf6 9.dxe5 dxe5 10.Lc5 Sh5 11.Sd5 Sf4 12.Sxf4 exf4 13.e5 g5 14.Dd5 Lf8 15.Lxf8 Txf8 16.0-0-0 De7 17.Lxc6 Lxc6 18.Dd3 Ld7 Sonst bleibt der König in der Mitte hängen. 19.Sxg5 0-0-0 20.Sf3 f6 21.exf6 Txf6 [ Aljechin fürchtete sich- wie Keres in seinen Partiensammlungen berichtete - vor: 21...Dxf6 22.Dxh7 Lf5 23.Dh4 Txd1+ 24.Txd1 Dc6 25.Dxf4 Da4 26.Se1 Dxd1+ 27.Kxd1 Lc2+ 28.Kxc2 Txf4 29.Sd3 Txc4+ 30.Kd2 mit abmarschbereiten Bauern am Königsflügel.] 22.The1 Db4? Ein Aussetzer in schwieriger Situation. Weiß braucht nur einen Schlag: 23.Dxd7+ 1-0 |
Keres lernte Unzicker beim Kiebitzen in Salzburg 1942 kennen. Dort wurde er auch Efim Bogoljubow vorgestellt. Der aus Kiew gebürtige ehemalige WM-Herausforderer, der seit 1927 die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, gab sich witzig-jovial als der Heranwachsende erzählte, dass er auch Schach spielte und dann sein Alter erwähnte: "Was erst 16 Jahre und dann sind Sie schon so verdorben?"
Die Uhren tickten damals anders als heute im Zeitalter der immer jünger werdenden Wunderkinder. Unzickers Schachlaufbahn nahm eben später - nach dem zweiten Weltkrieg - als Volljähriger einen steten Erfolgsverlauf. Zu Turnieren eingeladen zu werden hatte seinerzeit den Vorteil, dass man ausreichend Verpflegung bekam. Augsburg und Regensburg 1946, Kassel 1947 und Oldenburg 1949 waren im durch die Kriegsniederlage isolierten Deutschland auf dem Weg zu zwei Staatssystemen insofern internationale Veranstaltungen, als die besten deutschen Spieler auf gute Spieler aus den drei baltischen Staaten trafen. Bis Anfang der 50er Jahren lebten viele Schachspieler auf dem Territorium der späteren Bundesrepublik, die zur Gruppe der von den West-Alliierten als "displaced persons" klassifizierten 750.000 Flüchtlingen aus den nun zur Sowjetunion gehörenden Ostseestaaten zählten (als Beispiel für eine solche Biographie erschien jüngst - mit umfangreichem Blick auf die deutsche Zwischenstation - von John Donaldson, "Elmars Zemgalis - Grandmaster without Title", Pomeranian Publishing, Berkley 2001, keine ISBN, aber über den Schachfachhandel - z.B. Niggemann - erhältlich).
Reflektion der historischen Umstände im Lauf der Zeit - Paul Werner Wagner, der Vorsitzende der Lasker-Gesellschaft, mit Wolfgang Unzicker, einem Gründungsmitglied des Vereins zur Bewahrung der Erinnerung am den zweiten Weltmeister
Zum Schachspielen ins Ausland reiste Unzicker erstmals 1948 und gewann mit 5,5 Punkten aus sieben Partien in Luzern. Wie in vielen Sportarten war es die Schweiz, die den deutschen Sportlern Gelegenheit zur Wiederteilnahme an bedeutenden Sportveranstaltungen gab. 1950 folgte der gleiche Schritt für die Nationalmannschaft, mit der Unzicker am Spitzenbrett zur Olympiade ins jugoslawische Dubrovnik reiste. Auch bei den Vorstufen zur Weltmeisterschaft, den Interzonenturnieren, repräsentierte er seine Heimat auf höchstem Level - sekundiert von Lothar Schmid, dem Freund und Dauerrivalen um die nationale Spitze. Saltsjöbaden 1952 und Göteborg 1955 waren zwei der legendäre Turniere, auf denen es zum Kräftemessen mit den Staatsprofis aus dem Ostblock kam. Und 1956 folgten mit der Schacholympiade und dem Aljechin-Gedenkturnier zehn Wochen im Zentrum der neuen Schachsupermacht. In der Tauwetterperiode präsentierte sich die Sowjetunion als Gastgeber der internationalen Schachgemeinschaft. Für diese Weltbühne begann Unzicker 1955 Russisch zu lernen, was nicht nur vor Ort nützlich war, sondern bis heute bei Studium der Schachtheorie. Ein Drittel seiner Bibliothek schätzt der Münchner umfasst Literatur in kyrillischer Schrift. Bisweilen mitübersetzte er sogar Bücher, wie die erste, inzwischen vergriffene Biographie von Alexander Roschal über den jungen Weltmeister Anatoli Karpow (1976 im Mosaik-Verlag).
Unter den vielen starken Spielern in Moskau waren die Begegnungen mit Michail Botwinnik immer etwas besonderes. Sechs Mal traf er auf den ersten Repräsentation des seit 1952 auf Olympiasiege abonnierten Staates. In den 50er Jahren gelangen drei Remis, Anfang der 60er Jahre kamen ein Sieg und zwei Niederlagen hinzu. Für Unzicker war der häufig als "Primus inter pares" bezeichnete, sechste Weltmeister eine Ausnahmeerscheinung, denn er hatte eine ungewöhnlich gute Gabe, die Schwächen seiner Gegner zu identifizieren. Der Bayer hatte sich aber mit einem Remis in einem komplexen Turmendspiel bei der Amsterdamer Olympiade 1954 bereits Respekt erworden und beim prestigeträchtigen Einzelturnier nach der Olympiade 1956 erreichte er mit einem unerwarteten Springerzug erneut ein Remis. Der Altmeister war so beeindruckt von der Wirkung des Zuges, dass er auf Deutsch fragte: "Wollen Sie ein Remis?"
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Unzicker - Botwinnik
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Nach der Vereinbarung führte er zur Ansicht für die umherstehenden Experten nochmals den verblüffenden Zug aus. Die Geste symbolisiert wahrscheinlich eine Art von inoffiziellem Ritterschlag innerhalb der Schachelite.
Alle diese Leistungen vollzogen sich noch als Junggeselle und mit der Möglichkeit auf Arbeit reichlich unbezahlten Urlaub zu erhalten. Nach der Heirat und der Geburt der drei Söhne forderte die Familie mehr Zeit, außerdem erhielt der Jurist ab 1971 mit der Berufung an das Verwaltungsgericht München weniger Sonderurlaube. Trotzdem bliebt der Rekordnationalspieler mit 386 Einsätzen immer aktiv - gleich ob Bundesliga, internationales Turnier oder gar Partien mit dem Computer. Bereits 1991, als die Vergleiche mit Rechnern noch Ausnahmen waren, wehrte er sich auf der CeBit in Hannover gegen ein Vorgängermodell des Deep Thought, der 1997 Garry Kasparow bezwang. Während der chinesischer Erbauer, Dr. Feng Hsiung Hsu, im amerikanischen IBM-Forschungslabor saß, wandte Unzicker gegen die per Satellit übermittelten Züge eine Strategie an, die auch mehr als zehn Jahre später noch ihre Gültigkeit hat. Er spielte - ganz nach der Philosophie von Steinitz und Tarrasch - auf die Anhäufung kleiner Stellungsvorteile, die mit jedem Figurentausch eine größere Bedeutung erhielten. Diese Lehrstunde hat auch am Beginn des 21. Jahrhunderts nichts an ihrer Modellhaftigkeit verloren.
Doch eigentlich, so offenbarte er den Laskerianern, mag der Veteran die Auseinanderssetzung mit dem Elektronenhirn nicht so sehr: "Schach lebt von der menschlichen Unvollkommenheit. Mit der technischen Vollkommenheit nimmt man dem Spiel seinen Zauber." Diese Magie bringt nur die Begegnung mit Menschen, mit anderen Kulturkreisen, unterschiedlichen Meinungen und manchmal gleichen Idealen. Wie anders und bedeutsam das Auftreten des deutschen Schachrepräsentanten in den 50er und 60er Jahren war, lässt sich am Besten durch einen Außenblick bewerten. Anlässlich des zweiten vom Ehepaar Jacqueline und Gregor Piatigorsky 1966 in Santa Monica organisierten Weltklasseturniers mit dem damaligen Weltmeister Tigran Petrosjan, Boris Spasski, Robert James Fischer, Bent Larsen, Lajos Portisch, Samuel Reshevsky, Miguel Najdorf, Borislav Ivkov, Jan Hein Donner und Unzicker charakterisierte der weltberühmte Cellist den Deutschen im Turnierbuch wie folgt: "Mit gepflegtem Äußeren, frisch rasiert und passendem Anzug war er der Inbegriff an Ordnung. Das Klacken seiner Absätze verriet eine unbeugsame Tradition und seine Augen und das Lächeln die Wärme des Herzens. Während der folgenden Wochen erwarb er sich Respekt als Person mit vielfältigen Meinungen und hoher Intelligenz. Ich genoss unsere Unterhaltungen in deutscher Sprache und wünschte, jeder hätte hören können, was er sagte und so die Gefühle und Gedanken dieses freundlichen und kultivierten Mannes verstehen." In der heißen Phase des kalten Krieges und mit zunehmender verantwortungsvoller Westintegration der Bundesrepublik wog eine solche Wahrnehmung als Botschafter des Landes besonders.
Heute kann es der Pensionär gelassener angehen. Dem königlichen Spiel bleibt dem 77-Jährigen aber trotzdem verfallen - wie jüngst seine Auftritte beim Schnellschachopen der Chess Classic Mainz und der Senioren-Weltmeisterschaft in Bad Naumburg zeigen.
Im Bann des Schnellschachs - Wolfgang Unzicker beim Ordix-Open der Chess Classic Mainz 2002
Wer mehr über Facetten von Unzickers Werdegang erfahren möchten, kann seit einigen Wochen zu einer CD-ROM aus dem Hause ChessBase greifen. Der Kölner Schachhistoriker Hans-Dieter Müller legte eine Biographie anhand von 1750 Partien vor (25,50 Euro, ISBN 3-935602-48-0), die Stationen chronologisch nachzeichnet. Mit 30 Minuten videodokumentiertem Gespräch werden die Vorzüge des Mediums gut ausgenutzt. Die Begleittexte beschränken sich aber zumeist auf markante Sachverhalte der Turniere. Mehr Persönliches zu Unzicker und den Größen der jeweiligen Ära, interessante Umfeldgeschichten, zeitgeschichtliche Einordnungen und internationale Sichtweisen fehlen weitgehend. Auch bei den Analysen ist die Zusammenstellung schmal. Wichtige Analysen Unzickers aus leider nur noch antiquarisch erhältlichen Publikationen, beispielsweise seiner Partiensammlung "Vierzig eigene Partien" (Rau-Verlag 1962) oder dem Turnierbuch "Second Piatigorsky Cup" herausgegeben von Isaac Kashdan (Dover Publications 1968), werden nur teilweise berücksichtigt. Einzelne Turniere, wie das Aljechin-Gedenkturnier 1956, sind dagegen analytisch gut aufgearbeitet. Insgesamt findet man zu 130 Partien Analysen oder Anmerkungen, die Originalquellen sind leider häufig nicht angegeben. Wenngleich die gründliche Bilanz - auch mit ansprechendem Layout, welches eben nur ein Buch bieten kann - noch aussteht, wird diese erste Kompaktschau solange der beste Überblick bleiben, wie sich kein engagierter Autor und Verleger findet.
Die Chessbase-CD über Wolfgang Unzicker
Dieser Waagemutige könnte dann auch eine Episode berichten, die Unzickers große Sympathie für das königliche Spiel kennzeichnet. Auf die Frage nach dem interessantesten Abgabezug antwortete er, dass da sicher seine Partie gegen Haji Ardiansyah aus der dritten Runde seiner letzten Olympiade in Luzern 1982 zu nennen sei. Dort steckte er einen katastrophalen Fehlzug ins Kuvert und der indonesische IM fand einen studienartigen Gewinnweg, der mit einem Schlag die Tragik der Stellung Unzickers offenlegte.
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Unzicker - Ardiansyah
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Hier kann man wieder auf die kleine Persönlichkeitsskizze von Piatigorsky über Unzicker zurückgreifen: "Seine Kunst bereicherte die Qualität des Turniers und wir erfreuten uns seiner reizenden Gesellschaft. Auf Wiedersehen, dear friend." (letzter Satz original im Englischen). Diesem Gruß würde sich jeder Zuhörer des Lasker-Treff anschließen, denn der Tenor war einhellig, dass man am diesem Abend ein Stück näher an die Schachgeschichte rangerückt war!
(kürzere Fassung erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 24 / 2002, S. 663/664)