Verschollene Schachtradition im Herzen PreußensBerliner Ausstellung entdeckt die Ursprünge des ältesten Schachclub Deutschlands * Das königliche Spiel als intellektuelles Schlachtfeld der geistigen Elite vor 1850von Harald Fietz, November 2003 |
Am 27. Oktober 1806, wirbelten die Pferde Napoleons und seiner Armee den staubigen Boulevard am prägnantesten aller Berliner Stadttore auf. Nach der vernichtenden Doppelniederlage bei Jena und Auerstedt stand nach fast 1000 Jahren das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bevor. Die Quadriga, der auf dem Brandenburger Tor platzierte Vierspann mit der Siegesgöttin Viktoria, symbolisierte da bereits - entgegen der ursprünglichen Intention eines Preußen-Siegs gegen die Niederlande - in den Nachwehen der Französischen Revolution eher den ambivalenten Zustand der herrschenden Gesellschaft mit Liberalisierungshoffnungen in Teilen des Bürgertums (wild-treibende Pferde) und Machterhalt der Aristokratie (verharrende Viktoria). Der französische Kaiser ließ die Figur auf dem Berliner Gegenstück zum Pariser Arc de Triomphe abmontieren und in die Seine-Metropole bringen, wo sie sieben Jahre blieb. Nach dem Sturz Napoleons 1814 fügte Karl Friedrich Schinkel der zurückgekehrten Quadriga ein Stab mit Eisernem Kreuz, Lorbeer und Preußen-Adler als Zeichen für militärische Stärke zur Absicherung der politischen Restauration hinzu. Die anschließende Biedermeierzeit strahlte äußerlich Ruhe aus; freiheitliche Ideen lehnte der Adel und das konservative Bürger- und Beamtentum ab. Ab 1830 verschärften sich im Vormärz bis 1848 politische und kulturelle Konflikte zwischen Konservatismus und Liberalismus.
In diesem geistigen Klima der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert hatten in Berlin, der um 1800 mit 175.000 Einwohnern nach London und Paris drittgrößten Stadt in Europa, Debattierfreudigkeit und intellektueller Wettstreit Konjunktur. Schon zur Zeit der Spätaufklärung Ende des 18. Jahrhunderts und dann während der preußischen Reformen (1807-1814) entstanden als geschlossene oder halb-öffentliche Treff- und Rückzugsräume zahlreiche Salons und Clubs, in denen sich aufklärerische Strömungen formierten. Gedankenfreiheit, Vernunftdenken und Toleranz bildeten Säulen dieser meinungsbildenden Foren und gestalteten durch den Face-to-Face-Ideenaustausch der geistigen Eliten das öffentliche Bewusstsein mit. In diesem Umfeld etablierte sich Schach - wie eine aus vielen bisher ungeborgenen Quellen zusammengetragene Ausstellung in der Berliner Kunstbibliothek eindrucksvoll zeigt - am Beginn des 19. Jahrhunderts als Vorzeigesport der gebildeten Schichten. Körperliche Sportarten hatte damals einen schweren Stand. Die Turnbewegung, die Friedrich Ludwig Jahn 1811 im Berliner Volkspark Hasenheide gründete, wurde 1817 mit ein Verbot belegt, welches bis in die 1840er Jahre gültig blieb. Sport für die Massen geriet in Verdacht, unkontrolliert politischen und sozialen Bewegungen als Plattform zu dienen. Das königliche Spiel hingegen galt als weitgehend unverdächtig, denn es stand einerseits im Ruf, gar militärisches Strategiedenken anzuregen, und andererseits zur schöpferischen Erbauung beizutragen - gleich ob ein rationaler Denker oder ein romantischer Draufgänger antrat. Am 16. Oktober 1803 gründeten in der Taubenstraße - ein paar Querstraßen vom Brandenburger Tor entfernt - 34 Mitglieder, darunter der berühmte Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764-1850), der zwischen 1790 und 1793 die Quadriga schuf, den Berliner Schachclub, über den als ältesten deutschen Schachverein aber bislang nur spärliche Fakten bekannt waren.
Ein aus schachhistorischer Sicht kaum interpretiertes, berühmtes Bild, "Die Schachpartie" des Graphikers und Malers Johann Erdmann Hummel, verrät mehr das gesellschaftliche Umfeld des ersten deutschen Schachclubs und bildete für die Ausstellungsmacher Barbara und Hans Holländer den Ausgangspunkt, Bibliotheken und Archive nach kunsthistorischen, stadtgeschichtlichen, literarischen und amtlichen Publikationen und Verzeichnissen aus 250 Jahren zu durchforsten. In zwei Jahren intensiver Quellensuche und -studiums legten der 27 Jahre in Aachen tätig Kunstgeschichte-Professor und seine Frau detaillierte Hintergründe und Zusammenhänge über die Entwicklung des frühen deutschen Schachlebens offen. In Kombination mit der Interpretation der schachpublizistischen Bestseller zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich deutlicher erkennen, wer und was das deutsche Schachleben vor Einführung internationaler Turniere prägte.
Johann Erdmann Hummels Ölgemälde "Die Schachpartie" (um 1819) hatte viel zu erzählen. Quelle: mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Welch exponierter Stellenwert dem königlichen Spiel beigemessen wurde, zeigt sich - unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse - bereits in dem einen, im Schein der Kerzen eingefangenen Moment in einem typischen "Berliner Zimmer". Hummel, der eine Professor für Architektur, Perspektive und Optik an der Berliner Akademie inne hatte, malte die Situation kurz vor einem Mattfinale um 1819 als Auftragsarbeit in zwei Fassungen: einem kleinen Ölbild (38x44 cm), welches heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin hängt und in der aktuellen Ausstellung zu sehen ist, und einer größeren Replik, die in der Niedersächsischen Landesgalerie in Hannover gezeigt wird, aber wegen des angegriffenen Zustands der Farbschichten nicht mehr transportierbar ist. Wilhelmine der Niederlande wünschte das Schachtreffen als Erinnerung an Berliner Freunde. Die Szene in der Villa Voss in der Wilhelmstraße (führt vom Brandenburger Tor Richtung Süden) zeigt von links mit Tonpfeife den Architekt Hans Christian Genelli, sitzend und einen Gewinnzug ausführend den Archäologen und Kunstkritiker Aloys Hirt, mit beobachtendem Blick Graf Gustav Adolf von Ingenheim, ein Sohn Friedrich Wilhelm II., im Hintergrund der Maler selbst, rechts daneben, die Partie resignierend aufgebend, der Maler Friedrich Bury und rechts außen in Militäruniform der junge Graf Wilhelm von Brandenburg, der preußische Ministerpräsident 1848-1850 - ebenfalls ein Sohn Friedrich Wilhelm II. - und Halbbruder der Auftraggeberin. Bis auf die beiden Adeligen waren alle Personen tatsächlich langjährige und eifrige Mitglieder des Schachclubs. Das Bild verdeutlicht einerseits, dass es zwischen der geistigen und der herrschenden Elite enge Netzwerkbeziehungen gab, die Organisationsform des Schachclubs zeigt aber andererseits, dass sich Vordenker durchaus mit dem edlen, vernunftorientierten Brettspiel und der Diskussion fortschrittlicher wissenschaftlicher, künstlerischer und politischer Ideen in einer unabhängigen Zone beschäftigen wollten.
Um diesen Kontext zu fassen, hatten die Ausstellungsmacher zudem das Glück, Schadows minutiösen Schreibkalender, eine Art Palmtop des 19. Jahrhunderts, auswerten zu können. Die umfangreichen täglichen Notizen reichern ein facettenreiches, zeitgenössisches Panorama an.
Der Schachclub als Treffpunkt Gleichgesinnter: Als es noch keine Massenmedien gab, gründeten sich im Zeitalter der Aufklärung unterschiedlichste Vereinigungen, um dem gesteigerter Verlangen nach Informationsaustausch zu begegnen. Als frühabendliche Treffs bildeten diese Örtlichkeiten die Brücke zwischen beruflichen und privaten Lebensbereichen. Außer im Schachclub suchte man nicht selten noch anderswo nach Neuigkeiten, Erfahrungsaustausch und Erbauung (z.B. Schadow war u.a. Mitglied in der Freimaurerloge Royal York und regelmäßiger Gast in der Singakademie. 1814 gründete er den Berliner Künstler-Verein mit.).
Johann Gottfried Schadow war nicht nur ein begnadeter Bildhauer und Graphiker, sondern auch ein leidenschaftlicher Schachspieler (undatiertes Selbstbildnis mit schwarzer Kreide, Bleistift und Rötel auf gelben Papier) Quelle: mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Häufig organisierten sich solche Zusammenkünfte nach festen Regeln (den "Gesetzen"). Der Schachclub von 1803 definierte seinen gewünschte Personenkreis dabei eher eng; man wollte ein Zirkel derjenigen sein, die gesellschaftlich etwas erreicht haben: "Zur Mitgliedschaft ... können nur solche Personen vorgeschlagen werden, welche zum Civil, Adelichem, bürgerlichen, geistlichen oder gelehrten Stande gehören", hieß es in der Satzung. Militärs waren - wohl wegen einer gewissen Engstirnigkeit im Denken - explizit ausgeschlossen, konnten aber als Gäste mitgebracht werden. Unterteilen lässt sich die stetig steigende Mitgliedschaft in Gelehrte (Natur- und Sozialwissenschaftler, Professoren, Schuldirektoren, Lehrer, Privatdozenten, Ärzte u.a.), Künstler (Maler, Bildhauer, Architekten, Schauspieler, Schriftsteller u.a. ), Beamte (meist aus höheren Positionen und insbesondere aus der Seehandlung, dem Finanzministerium, der Staatslotterie und dem Kriminalgericht) und andere Berufe (Prediger, Pastoren, Bankiers, Kaufleute, Buchhändler, Apotheker, Unternehmer u.a.). Neuaufnahmen geschahen über persönliche Bekanntschaft bzw. Abstimmung unter den bisherigen Mitgliedern, so dass sich beispielweise der Anteil von Staatsbediensteten stetig vermehrte. Bis 1805 hatte der Club schon 139 eingetragene Mitglieder. Viele trafen sich so oft sie konnten im Club. Schadow selbst kehrte fast 45 Jahre zwei bis dreimal wöchentlich auf zwei bis drei Stunden ein. Neben den Partien und Gesprächen las man abonnierte Tageszeitungen oder studierte Werke aus der Clubbibliothek. Dafür existierte extra ein Raum, das "Lese Cabinet", und eine Schachbuchsammlung, die die Satzung ausdrücklich als Präsenzbestand vorschrieb (Ausleihen waren nicht vorgesehen).
Der Schachclub als Enklave des Geistes: Die Geschichte des "Alten Clubs", wie man ihn später zu nennen begann, zeigt, wie selbstverständlich die Kenntnis und Auseinandersetzung mit dem Schach zu jener Zeit war. Das königliche Spiel glänzte im wahrsten Sinne als der von Johann Wolfgang Goethe postulierte "Prüfstein des Gehirns". Die Schachtheorie steckte vor 200 Jahren noch in den Kinderschuhen und verschiedene Schulen - insbesondere die italienische und die französische Denkrichtungen - konfligierten mehr als das sie schon gemeinsam zur Evolution des Spielverständnis beitrugen. Die Mitglieder debattierten deshalb sicher, wie die Notwendigkeit einer Vor-Ort-Bibliothek belegt, häufig unter Zuhilfenahme der Bücher über den Wert der Schachprinzipien. Doch der Schachclub diente nicht nur als Ort zum Figurenziehen.
In einem Staatswesen, welches auf restriktiven Maximen fußte, aber den führenden Denker natürlich Arbeitsmöglichkeiten, Verdienst und Status verschaffte, sehnte man sich - gerade in einer Zeit als freiheitliche Gedanken viele gesellschaftliche Sphären zu erfassen begannen - nach Enklaven des Geistes. Hier gab es - neben dem spielerischen Vergnügen - Gelegenheit, sich über viele Projekte und Fortschritte in unterschiedlichen Professionen und Fachgebieten auszutauschen. Die meisten Berufsprofile kennzeichnete das Streben nach rationaler Analyse und zweifelsfreien Maßstäben Der Anspruch einer umfassenden Allgemeinbildung prägte das geistige Klima auf und neben den 64 Feldern. "Am Schachbrett trafen sie sich sozusagen auf neutralen Terrain, auf einer Abstraktionsebene höherer Ordnung, einer Metaebene, auf der alle Fähigkeiten, die sie in ihren Beruf beweisen mussten, buchstäblich zum Zuge kamen, aber ohne metierbedingte Spezialkenntnisse", fasst Hans Holländer zusammen (Ausstellungskatalog, S. 26). Werke wie von des Pädagogen Lazarus Bendavid, einem Mitglied der ersten Stunde und bevorzugten Schachpartner Schadows ("Beyträge zur Kritik des Geschmacks" oder "Ursprünge innerer Erkenntnis"), des Astronomen Johann Franz Encke, der komplizierte Kometenbahnen berechnete, oder des Staatbeamten Georg Leopold von Reiswitz, der auf der Grundlage des Schachs ein komplexes Kriegsanalysespiel erfand, interessierten alle. Der aufwendig layoutete Ausstellungskatalog widmet sich in originellen und ungeheuer faktenreichen Deutungen diesen und ähnlichen Aktivitäten sowie der Auslegung der damaligen Schachvorstellungen und liest sich teilweise spannend wie ein Krimi.
Schach als Außendarstellung der herrschenden Klasse: Anschaulich wird auch ein Nebenaspekt gewürdigt, die Darstellung von Historie und des Zeitgeistes in Form von Figuren. Der Spielsatz besaß in herrschaftlichen Kreisen nicht nur einen Gebrauchswert, sondern man betrieb mit der Herstellung und dem Vertrieb quasi Werbung für die Erhöhung des Stellenwerts eines Ereignisses oder einer Ideologie. Die Ausstellung zeigt Exponate mit den Motiven der Hermannschlacht und des Dreißigjährigen Kriegs. Es gibt Figuren in türkischen Gewändern und natürlich von bedeutenden Herrschern, vor allem Napoleon. Der Franzose tritt in Elfenbein in einem chinesischen Spiel bzw. in der Konfrontation Franzosen gegen Senegalesen auf und wird in Porzellan bzw. Gusseisen den Offizieren um Friedrich II. gegenüber gestellt. Daneben gibt es aber auch Figuren, die heutigen, spielpraktischen Ansprüchen genügen (z.B. das Selenusspiel und vor allem die formschönen Staunton-Spiele).
Schach als sportlicher Wettstreit: Und letztlich wurde im Alten Club - außer den überwiegend freien Partien - begonnen, in die Tradition der Städtekorrespondenzpartien einzutreten, die vor dem ersten internationalen Turnier 1851 - neben Matchs zwischen Meistern - üblich waren. 1827 entstand die Berliner Schachgesellschaft (heute noch als BSG Eckbauer in unteren Ligen der Berliner Mannschaftsmeisterschaft existent), die sich bald zum führenden Verein im preußischen Machtzentrum entwickelte, da sie wesentlich freier Zugangsbestimmungen hatte und viele starke Spieler anzog (u.a. die Plejaden, das Siebengestirn mit Tassilo von Heyerbrand und der Lasa, Rudolf von Bilguer, Ludwig Bledow, Wilhelm Hanstein, Bernhard Horwitz, Wilhelm Mayet und Karl Schorn). Ab 1846 brachten einige ihrer Mitglieder die Deutsche Schachzeitung heraus. Zur Entwicklung der deutschen Schachclubs im 19. Jahrhundert verfasste Bernhard Schmid, der Sohn des bekannten Großmeisters und Schachbuchsammlers Lothar Schmid, 1987 eine noch veröffentlichte Diplomarbeit (Universität Erlangen-Nürnberg). 1827 entstand in Leipzig ein Club über den wenig bekannt ist, 1829 gründet sich in Breslau ein Verein und 1830 formierte sich die heute noch sehr lebendige "Hamburgische Gesellschaft vereinigter Schachfreunde" (1862 umbenannt in Hamburger Schach-Klub HSK). In Kooperation mit der Schachgesellschaft und führenden Berliner Meistern trug der Alte Club drei Wettkämpfe zu jeweils zwei Partien aus (u.a. mit analytischer Hilfe des bisweilen von seinen Zeitgenossen in seinen Schachproduktionen als "wild-genial" titulierten Julius Mendheim, der sich auch als Schachbuchautor und Problemkomponist einen Namen machte). Für das Match gegen Posen wurde gar ein gemeinsame Commission gebildet. Überlegungen ab Mitte der 1830er Jahre, die Clubs zusammen zu legen, bleiben jedoch unfruchtbar.
Aus Sicht der modernen Schachtheorie muten die von Schadows Schachclub in Kooperation mit der Berliner Schachszene bestrittenen Städtevergleichskämpfe etwas amateurhaft an. Aber man muss sich bei den Schachgedanken in das Denken der Zeit rückversetzen. Es war - wie der Katalogbeitrag von Hans Holländer - zeigt, eine Zeit der Orientierung. Viele Autoren versuchten damals die tragenden Prinzipien des Schachs zu definieren. Einen prägenden Einfluss übte das Aufeinanderprallen der französischen und der italienischen Schachschulen mit ihren publizistischen Leitungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Francois Danican Philidor, der Verfechter strategischer Prinzipien, die sich wesentlich um typische Bauernstrukturen herum gruppierten, prallte auf die Anhänger des kombinatorisch geprägten Schachstils in Person von Giambattista Lolli, Ercole del Rio und Domenico Ponziani, die der "freien" Wirkungen der Figuren mehr Gewicht zumaßen. Schach zwischen Glaube und Zweifel mit dem Versuch einen eigenen Beitrag zu leisten mag die experimentierfreudige, offensive Spielweise in Berliner Schachkreisen der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert eingrenzen. Diese Tradition dominierte vor dem Bahnbrecher Wilhelm Steinitz die Schachwelt und wurde eigentlich nur von einem unbefangenen Denker aus der neuen Welt, Paul Morphy, nicht so verkörpert.
Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf einige Produktionen. Die Partie gegen die Breslauer entzieht sich einem Schema, da Schwarz völlig unkonventionell mit 3. ... De7 beginnt, im Mittelspiel aber aufgrund des Läuferpaars und der aktiveren Figuren einen einfachen technischen Sieg erringt.
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Breslau - Berlin
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Die Remispartie gegen Hamburg ist allein durch ihre Länge untypisch. Eine für die Zeit charakteristische Eröffnung, die Italienische Partie, zieht sich in ein Turmendspiel, welches viele Jahrzehnte in Endspielwerken als Lehrbeispiel herangezogen wurde.
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Berlin - Hamburg
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Die zweite Partie gegen den Posener Schachclub hingegen passte perfekt in das Denkschema der kombinatorischen Schule. Von der Lasa merkt an, dass sie "... eine vorzügliche Beachtung [verdient], weil Berlin, welches den Angriff führte, darin von der einseitigen Befolgung des Philidor'schen Bauernprincipes wissentlich abwich und, in richtiger Erwägung der besonderen Lage des Spieles dem Figurenangriff nach italiänischer Art den Vorzug gab." (zitiert im Ausstellungskatalog, S. 47)
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Berlin - Posen
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Diese ihr Zeitalter prägenden Wettkämpfe bestätigen zwar die Einschätzung des Ausstellungskurators Hans Holländer von den bemühten Anstrengungen, das Niveau des Schachports zu heben: "Die Vorstellung von einem gemütlich vor sich hindümpelnden und unproduktiven Honoratiorenclub dürfte sicherlich unzutreffend sein." (Katalog, S. 12) Doch letztlich überlebte sich die Institution des altehrwürdigen Schachtreffs geistiger Größen aus vielen Disziplinen ebenso wie die Debattierrunden der Salonkultur, die weit um den Jahrhundertwechsel von der Epoche der Aufklärung bis zur industriellen Revolution en vogue waren, Mitte des 19.Jahrhunderts aber außer Mode gerieten. Die elitäre Mitgliedschaft des Alten Clubs schrumpfte zwar aus biologischen Gründen, aber definitiv gibt es für die Beweggründe der Auflösung, die im Herbst 1847 vollzogen wurde, keine Erklärung. Vielleicht fehlten treibende Kräfte wie Anfang des Jahrhunderts, die das alte Ideal des Nebeneinanders von Schach und intellektueller Horizonterweiterung hochhielten. Die Notwendigkeit zweier Schachvereine bestand selbst in der rapide wachsenden Metropole Berlin nicht mehr.
Nach Schadows Schachclub schon wieder auf neuer Spurensuche: Barbara und Hans Holländer im mit Interieur aus dem 19. Jahrhundert eingerichteten Lasker-Zimmer des Heimatmuseums in Barlinek, dem heute in Polen gelegenen Geburtsort des deutschen Schachweltmeisters. Foto: Harald Fietz
Was können uns diese frühzeitlichen Zeugnisse des Schach in Deutschland in der Gegenwart bedeuten? Der belgische Historiker Henri Pirenne sagte einmal: "Wäre ich Antiquar, würden mich nur alte Sachen interessieren. Aber ich bin Historiker. Deshalb liebe ich das Leben." (zitiert in Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, Stuttgart: Klett-Cotta 1974, S. 61) Gerade weil das königliche Spiel heute im deutschen Sport ein Randdasein fristet, muss es eine Herausforderung sein, den fairen Charakter des egalitären Spiels mit der Tradition von Vernunft und Toleranz herauszustellen. Kurz nach Eröffnungsbeginn schrieb die 10-jährige Sabine mit kindlichen Lettern in das Gästebuch der Ausstellung: "Mir haben die Schachspiele gut gefallen, weil sie so verschieden sind." Wenn sie älter ist, wird sie - falls sie nicht durch das begeisternde Auftreten der deutschen Fußballnationalspielerinnen bei ihrem Weltmeisterschaftgewinn in den USA zur Kickerin geworden ist - verstehen, dass Schach auch in seiner rationalen, abstrakten Dimension so verschieden vielfältig gefallen kann. Leider ist die Ära, in der am Brandenburger Tor ein Schach-Turm statt eines derzeit für die WM-2006 werbenden Fußball-Globus aufgebaut wird, noch eine ferne Vision. Aber mit der Berliner Ausstellung ist - dank Barbara und Hans Holländer - ein Meilenstein zum Verständnis der Historie vorurteilsfreier Gedankenschöpfungen mitgeteilt worden. Wenn wir das Spiel lieben, sind wir sind gut beraten, uns diese kulturgeschichtlichen Wurzeln des deutschen Schachs bewusst zu machen.
Sonderausstellung: "Schadows Schachclub - Ein Spiel der Vernunft in Berlin 1803 - 1850" in der Kunstbibliothek des Kulturforum, Berlin-Tiergarten, Matthäikirchplatz (Internet: www.smpk.de/fw/b/index.html) Tel. 030 / 266 20 29 noch bis 16.11.2003 Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 10 - 18 Uhr; Samstag / Sonntag 11 - 18 Uhr (Führung am 16.11. um 11 Uhr) Katalog: Unter dem Ausstellungstitel herausgegeben in der Reihe "Sammlungskataloge der Kunstbibliothek" (ISBN 3-88609-480-4), 188 Seiten, 27 Euro, Plakat 4 Euro |
(erschien zuerst in Schach Magazin 64, Nr. 20 / 2003, S. 551 - 554)