Schwarz bedeutete GrünWie ein Berliner zum Schach kam und nach dem zweiten Weltkrieg Eröffnungsbibeln schriebvon Harald Fietz, Juni 2003 |
Sie schmücken ganze Regalreihen und galten als Fundgrube für Generationen von Schachspielern. Die dunkelgrünen Hardcover mit goldenem Schriftzug sorgten stets für mehr als Varianten - die Präsentation vollständiger Partien in Eröffnungsbüchern haben nicht erst englische Verlage salonfähig gemacht. Auf allen Leinenbänden prangt der Name "Schwarz". 50 Jahre trug Rolf Schwarz aus den entlegensten Quellen Material zusammen - ein Viertel Jahrhundert bevor die Informator-Enzyklopädien Mitte der 70er Jahre eine neue Nomenklatur schufen. Die heutige, schnelle Welt mit Computer, Datenbank und Internet für jedermann existierte nicht mal als Vision. Sammeln, ordnen und nachspielen in Handarbeit statt selektieren mit Mausklick ließ Figuren noch richtig auf dem Brett tanzen statt über den Bildschirm flitzen. Und die Anfangsjahre waren historisch bedingt mühsam, aber voller lebendiger Begegnungen.
Rolf Schwarz im April zu Gast bei der Berliner Lasker-Gesellschaft
Gelernt hatte es der 1926 in Berlin Geborene im zweiten Weltkrieg bei der Luftwaffe. Auf dem Flughafen in den Niederlanden übte man zwischendurch auf einem Steckschach. Eine Passion, die auch in den letzten Kriegstagen während der Bombardements auf die Reichshauptstadt nicht aufhörte. Vom Schachcafe "König" in der Friedrichstrasse in den Luftschutzkeller und zurück pendelte man zwischen sorglosem Planen am Brett und der Realität heilloser Weltuntergangsstimmung. Nur wenige hundert Meter entfernt ersann Hitler in seinem Führerbunker mit dem "Nero"-Befehl das bizarre Szenario, den anrückenden Sowjets eine "Zivilisationswüste" zu hinterlassen. Aber soweit kam es nicht. Trotz aller Zerstörung entstand bald eine vitale Schachszene in der von den vier alliierten Streitkräften besetzten Stadt. Die Verwaltungsstrukturen der damals 21 Stadtbezirke hatte die Sowjets unmittelbar geschaffen, noch bevor die Amerikaner, Briten und Franzosen ihre Sektoren übernahmen. Schachclubs waren als eigenständige Organisationen verboten, doch Vereine als Organisationseinheit der bezirklichen Sportämter konnten entstehen. Jährlich mussten die Mitgliederlisten vorgelegt werden, um ehemaligen Funktionsträgern des Nazi-Regimes möglicherweise auf die Spur zu kommen. Der gerade volljährig gewordene Schwarz war davon nicht betroffen, doch das Regime der Besatzungsmacht im heimischen Ost-Berlin behagte ihm auch nicht. In der Trümmerstadt war es 1946 jedoch leicht, den Wohnort zu wechseln und in Friedenau ließ er sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Steglitz nieder. Im Juni 1947 war er mit dabei, als u.a. bereits gestandene Meister wie Heinz Lehmann und Rudolf Teschner die Spielgemeinschaft Lasker Steglitz gründeten. Diese war noch Teil eines gesamtstädtischen Ligabetriebs, denn erst 1950 entstanden in Berlin getrennte Ost- bzw. West-Verbände. Auch gemeinsame Meisterschaften gab es noch auf lokaler und nationaler Ebene. So trafen sich bei der Berliner Meisterschaft 1949 alle Spitzenspieler. Hier konnte Schwarz manchen schnittigen Sieg erringen, wie gegen Rudolf Elstner, der 1950 im thüringischen Sömmerda die dritte DDR-Meisterschaft gewinnen sollte.
Und beim DDR-Meistertitelgewinn seines Gegners war Schwarz ebenfalls dabei - allerdings nicht als Spieler. Neben seiner Lehrerausbildung in Geschichte, Deutsch und Mathematik entdeckte der spätere Rektor einer Oberschule seinerzeit die Lust am Schreiben. Schachjournalismus kam da gerade recht, aber es hätten auch Krimis sein können. "Nur wusste ich nicht, ob sich das finanziell lohnt und ob ich dafür tatsächlich Talent hatte", räumt er rückblickend bei seinem Vortrag auf dem April-Treffen der Berliner Lasker-Gesellschaft ein. Für die täglichen Berichte von der ersten Meisterschaft im Arbeiter- und Bauernstaat stellte der Spartenleiter des Deutschen Sportausschusses Gustav Müller eine Schreibmaschine und eine hübsche Sekretärin zur Verfügung. Für die Entlohnung von 1800 Ost-Mark musste über allerhand geschrieben werden. Gerade abseits des Meisterturniers verdienten sich viele Spieler ihre ersten Sporen, die das DDR-Schach Jahrzehnte prägen sollten. Die WM-Kandidatin von Moskau 1949, Edith Keller, errang trotz Krankheit einen geteilten Sieg bei den Damen, der spätere Fernschachweltmeister Horst Rittner, wurde Zweiter im Nebenturnier, Reinhart Fuchs, der langjährige Redakteur des linientreuen "Schach", teilte den Sieg bei der Jugendmeisterschaft, und Wolfgang Uhlmann, die aufstrebende Galionsfigur des DDR-Schachs, kam auf Platz zwei im Hauptturnier der Jugend. Für Schwarz war es eine unbeschwerte Zeit zwischen all den Größen. Mit Schmunzeln erzählt er die Episode, dass Funktionär Müller eine zweite Quittung für das Honorar brauchte, eben um für die eigene Tasche doppelt bei der Sportorganisation abzurechnen.
Dazuverdienen konnte er damals auch - als West-Berliner beim Ost-Berliner Sportverlag! 1950 erschien in der Reihe "Sammelbücherei für Körperkultur" ein 200 Seiten-Bändchen zur französischen Verteidigung und 1953 ein 540-Seiten-Wälzer zur sizilianischen Verteidigung. Für 7,85 DM ging der Bestseller 16.000 Mal über den Ladentisch! Diese in der Nachkriegsära erste umfassende Standortbestimmung der halboffenen Eröffnung entstand zusammen mit dem DDR-Bürger und Staatstrainer Heinz Platz, der dafür wochenlang im amerikanischen Sektor in der Friedenauer Wohnung logierte und half, auf dem Fußboden ausgerissene Zeitungsartikel zu ordnen und Partien zu bewerten. Sie profitierten davon, dass Schwarz bereits ein großes Netzwerk an Tauschkontakten in alle Welt aufgebaut hatte (z.B. bis nach Australien und dem ersten Fernschachweltmeister Cecil Purdy). Wie später bei der grünen Reihe waren die führenden Magazine wichtig: Deutsche Schachblätter, Deutsche Schachzeitung, Schach, Caissa, Schachmagazin, Schachmaty, Magyar Sakkelet, Chess Review usw. Ideologische Gräben bei der Materialsichtung gab es noch kaum, doch die Autoren hielten einen besonderen Hinweis als Nachtrag für notwendig: "Für die Auswahl der Partien war lediglich ihr Zusammenhang mit der Theorie maßgebend. Wir hatten nicht die Absicht, die Leistungen einzelner Meister zu schmälern." Vorne in den Pappband klebte der Verlag zwei Bilder ein, die die beiden Meister zeigen, die damals für die größten Experten gehalten wurden: Alexander Kotow und Paul Keres! Dennoch hält Schwarz Keres für den Spieler, der in der Schachgeschichte am meisten unterbewertet ist.
Aber auf Dauer konnte die Zusammenarbeit mit dem Sportverlag keine Basis haben. Mit Ost-Mark ließ sich wenig anfangen und der kalte Krieg spaltete bis zum Mauerbau 1961 die politischen Systeme nach und nach. Da kam das Angebot von Kurt Rattmann, dem angesehenen Schachhändler aus Hamburg, gerade recht. Ab 1958 konnte Schwarz sich austoben und seinen Stil entwickeln. Nicht wenige grüne Bände erreichen einen Umfang zwischen 400 und 500 Seiten - der Französisch-Band kommt gar auf 576 Seiten und 360 Partien. Die Voraussetzungen waren neben dem Lehrerberuf gut. Technisch schaffte eine elektrische Schreibmaschine, "meine große Errungenschaft" (O-Ton Schwarz), früh die Hardware-Grundlage und daheim klappte es ebenfalls. "Ich machte die Fleißarbeit des Variantensammelns und meine Frau das Mittagessen", flunkert der 77-Jährige. Neben der Erziehung von zwei Töchtern galt bis Mitte der 80er Jahre der Großteil der Freizeit der Produktion von insgesamt 27 Bänden in der Reihe "Handbuch der Schach-Eröffnung". Noch heute wundert er sich aber, dass unter den vielen Eröffnungen ausgerechnet die Bird-Eröffnung mit dem schlichten Titel "1.f2-f4" das meistverkaufteste Buch wurde.
Viele Varianten testete Schwarz ab 1948 im Fernschach, wo er es bis zum internationalen Meister brachte, aber grundsätzlich vertrat er das Credo, dass seine Bücher für den kritischen Konsumenten eher eine Materialbasis denn eine Denkanleitung sein sollten. Besonderes Augenmerk legte er darauf, die Ideen zu beschreiben, eine Richtung für die Analyse aufzuzeigen. Hier sah er sich in der Tradition von Georg Marco, der mit spitzer Feder 1898 bis 1916 die Wiener Schachzeitung redigierte. Außer wortreichen Stellungsbewertungen war ihm immer wichtig, Analysen den jeweiligen Quellen und Spielern zuzuordnen. Eine Etikett, die heute längst nicht jeder Autor mehr befolgt.
Als sich Mitte der 70er Jahre in der Nach-Fischer-Ära der Schachstil vieler Spieler auf den zahlreichen neuen Open-Turnieren hin zu schärferen Varianten orientierte, ging auch Schwarz auf den Trend ein: Der Heidelberger Schmaus-Verlag verlegte seine Titel als "RS-Gambitreihe". Bücher über das Wolga-Benkö-Gambit, das Göring-Gambit, das Morra-Gambit und das sizilianische Flügelgambit inspirierten eine damals wachsende Zahl von Schachspielern in Deutschland. Mit seiner Zeitungsreihe "Fit durch Gambit" lieferte er bis in die 90er Jahre auch für Schachmagazin 64 Nachschub für jenen Spielstil, den er selbst seit je her bevorzugte. "Wenn sich wie bei Nimzowitsch alles ineinander verschachtelt, dann bin ich lieber heimgegangen," erinnert er sich an die frühen Schachcafejahre in der Kreuzberger Yorckstraße. Sein Aufeinandertreffen mit dem heutigen Ehren-Großmeister Teschner, dem gesamtdeutschen Meister von 1951, ist beispielhaft für seine Auffassung von Angriffsschach.
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R. Schwarz - R. Teschner
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Solche Parforce-Ritte vermisst er heute. Über das mit Computern ausanalysierte Schach eines Kasparow, Kramnik oder Anand schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. Da kommt der kreative Moment zu kurz. Auch wenn sich das Rad der Zeit nicht zurückdrehen lässt, die grün-goldenen Erinnerungen bleiben doch.
(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 8/2003, S. 210 - 211)