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Vom Handgemenge zum körperlosen Spiel

Berliner Ausstellung zeigt zeitgenössische Spielsätze und Bilder rund um den Denksport

von Harald Fietz, Mai 2004

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

   Interpretationen über das Schachspiel gibt es - so wie Züge einer Partie - endlose viele. Bildende Künstler faszinierte das königliche Spiel zu allen Zeiten - gleich ob Maler oder Bildhauer. Ein Sport, der wie ein Bild oder eine Skulptur in einem räumlich begrenzten Rahmen stattfindet, gleichwohl unendliche Aussagemöglichkeiten bietet. Ein geistiges Ringen, ein intellektueller Boxkampf mit klaren Regeln und zugleich ein Tummelplatz für fast anarchistischer Entwicklung. Wie wird sich eine Begegnung entwickeln, welche Figur wird die Entscheidung bringen? Bedarf es der Zusammenballung von Schwerfiguren oder reicht der filigrane Einsatz von Leichtfiguren? Wer mit wem, wie, warum?

   Früher spiegelten künstlerische Spielsätze häufig ein offizielles Gesellschaftsbild. Prächtige Exponate (z.B. die Konstellation Friedrich II. gegen Napoleon) waren erst vergangenen Herbst in der vielbeachteten Berliner Ausstellung "Schadows Schachclub" in der Kunstbibliothek zu bestaunen. Heuer bietet die Galerie "Kunstgiesserei Flierl" - mit Unterstützung der Lasker-Gesellschaft - noch bis Anfang Mai Einblicke in das Gegenwartsschaffen von vier Berliner Bildhauern und einem Maler, der sich zudem jüngst räumlichen Produktionen zuwandte. Neben dem seit 1992 vor Ort ansässigen Marco Flierl sind Diether Münchgesang, Trakia Wendisch, Rudolf Borkenhagen und Henner Kuckuck dabei. Kurzfristig beteiligt sich auch Inge Flierl, die Mutter des Inhabers, mit einem 20000 Euro teueren Gobelin mit einem Schachmotiv. Ihre Werke sind heute - wie schon zu Zeiten der DDR - gefragt und schmückten in der Hauptstadt u.a. den Palast der Republik, das Grandhotel oder das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt.

   Doch wer Ostnostalgie vermutet, der liegt falsch. Gleich im ersten Raum stößt man auf Henner Kuckucks Schachspiel aus dem Harzmaterial Epoxy, entstanden 1965 zu seiner Westberliner Zeit an der Hochschule für Künste.

 

Schachspiel

"Sich durch das königliche Spiel schlängeln!" könnte das Motto sein von Henner Kuckuck, Schachspiel (Original für Nachguss), Epoxy, 1965, 90x90 cm, 12000 Euro. Foto: Harald Fietz

 

   Als minimalistische Skulpturen weilen die rundlich-geschwungenen Figuren auf dem überdimensionalen, 90x90 cm großen Brett. Es hat fast den Anschein, als wollen sie sich zunächst einem Zusammentreffen mit dem gegnerischen Lager entwinden. Im gleichen Raum befindet sich der von Trakia Wendisch gestaltete Spielsatz: Eine in Silber mit farbiger Patinierung gearbeitete Aufstellung mit gesichtslosen Mensch- und Tierfiguren. Nur die Türme in quadratischer oder runder Form mit ungewöhnlichen Wendeltreppen fallen aus der Reihe.

 

Schachspiel

Der trutzige Aufmarsch kann beginnen bei Trakia Wendisch, Schachspiel, Silber, farbig patiniert, 1993, 60x60 cm, 13000 Euro. Foto: Harald Fietz

 

  Figuren mit menschlichen Charakteren zeigen dagegen die Arbeiten von Marco Flierl, der in den 80er Jahren an der Ostberliner Kunsthochschule studierte, und Diether Münchgesang, der seit 1978 in der süd-westlichen Stadthälfte als Kunstpädagoge am Gymnasium Steglitz lehrt.

 

Schachspiel

Der Schachtanz kann beginnen bei Diether Münchgesang, Schachspielersatz, Bronze, 2003, Höhe ca. 20 cm, 8000 Euro und Schachbrett, Bronze, 2003, 64x64 cm, 1200 Euro. Foto: Harald Fietz

 

   Der Denksport kommt als fröhlich-ernste Angelegenheit tänzelnder oder strammstehender Kumpane daher; das Handgemenge liegt in der Luft.

 

Schachspiel

Schach als Stätte der Menschenbegegnung bei Marco Flierl, Schachspiel, Bronze, 2001, 60x60 cm, 8000 Euro. Foto: Harald Fietz

 

   Entsprechen die Spielflächen fast der eines üblichen Turnierbrettes, so sprengt Rudolf Borkenhagens hölzerner Schachtisch in der Raummitte die Dimension. Eineinhalb Meter Seitenlänge heben das Monumentale des Spiels, und zugleich den Aspekt der kriegerischen Auseinandersetzung, stärker hervor. Nichtsdestotrotz sind die vasengroßen Gipsfiguren mit Bronze relativ leicht. Der richtige Überblick ist besonders gefragt bei den fremden Fabelwesen ähnelnden Spielsteinen.

 

Schachspiel

Massiv und besser stehend zu überblicken sollte man Rudolf Borkenhagen, Schachspiel, Gips für Bronze, 1992/2004, 150x150 cm, 20000 Euro. Foto: Harald Fietz

 

   Ganz das Gegenteil präsentiert Borkenhagens zweiter Beitrag: Aus jeweils einem einzigen Eisendraht entstand ein fast entmaterialisierter Figurentyp. Abstraktion pur: "Luftiges" Spielutensil drängt auf Verinnerlichung; kein Körper soll den Geist stören.

 

Schachspiel

Ein fast entmaterialisierter Spielsatz von Rudolf Borkenhagen, Schachspiel, Eisendraht, 2001, 50x50 cm, 800 Euro. Foto: Harald Fietz

 

   Neben den plastischen Ausstellungsstücken hängt zum Schachthema ein Gemäldezyklus mit sechs Ölbildern von Diether Münchgang (im Internet unter www.muenchgesangberlin.de über Galerie/"Februar 2004" einsehbar). Das Treiben auf den 64 Feldern wird nach positiven und negativen Facetten hinterfragt; Übertragbarkeit auf gesellschaftliche Verhältnisse nicht ausgeschlossen. Hier versinkt das ganze Schachvolk apokalyptisch in einer Schlammschlacht, dort wird ein einsamer Bauer hinter einer rot-weißen Absperrung von einer Menschenmenge mit fahlen Gesichtern begafft. Mal spitzt sich in einer farbenreichen Explosion ein Kampfgetümmel zu und nur ein kleiner Bauer steht unbeteiligt abseits. Anderswo begegnen sich, ohne die Lager zu wechseln, menschliche und künstliche Figuren. Als wildes Durcheinander dokumentiert sich daneben ein Spielverlauf: Farbvermengungen auf bestimmten Feldern und konzentrische Bahnen symbolisieren dynamische Zugfolgen.

 

Schach-Kunst

"Die Gedanken des Schachspielers in Farben?" in Diether Münchgesangs Bild "Synoptisches Denken". Foto: Harald Fietz

 

   Ein ähnliches Motiv des Schach als Tanz der Gedanken erinnert unter dem Titel "Begegnung" allerdings mehr an einen expressionistischen Ballettauftritt. Warum bei einen anderen Bild zwei sich gegenübersitzende Spieler unter dem Motto "Ungleich" firmieren, erschließt sich kaum, denn schließlich kennzeichnet das Wesen das Schach ein durch und durch demokratischer Gedanken: Vor dem ersten Zug sind alle gleich, jeder kann gewinnen.

   Insgesamt ergründet dieser Ausstellungsparcours unterschiedliche Visualisierungen mit reizvollen vorder- und hintergründigen Sinnfragen rund um den uralten Denksport. Ist das Leben wie ein Schachspiel oder umgekehrt? Die Antwort muss letztlich jeder selbst finden. Für Berlin-Besucher lässt sich ein Ausstellungsbesuch mit einem Abstecher in den Szenekiez Prenzlauer Berg verbinden. In kurzer Distanz nördlich zu den in Reiseführern gepriesenen Gegenden rund um den Kollwitz-Platz und der Kulturbrauerei oder in fußläufiger Entfernungen zu den U-Bahnstationen Eberswalder Straße oder Schönhauser Allee (dritter, vierter Stopp nach Alexanderplatz in Richtung Pankow) durchquert man das pulsierende Stadtteilleben der Metropole zwischen trendigen Restaurants und Geschäften und alteingesessenen Institutionen. Ein Besuch der feinen Ausstellung lohnt. Die Prominenz unter den Schachbuch- und Spielesammlern, Großmeister Lothar Schmid und Dr. Thomas Thomsen, der Präsident der Chess Collectors International, waren auch schon da!


"SCHACH - Das Schachspiel in Bronze, Silber und im Bild"

war bis zum 7. Mai 2004 in der Galerie Kunstgiesserei Flierl (Schliemannstr. 30, 10437 Berlin, Tel. 030 / 44 55 181 oder 447 323 12 oder marco.flierl@tiscali.de): www.kunstgiesserei-flierl.de

Öffnungszeiten: Di., Do., Fr. 16-19 Uhr oder nach Vereinbarung (am Eingang zwischen den beiden Galerieräumen klingeln)

Hinweis: Auch nach Ende der Ausstellung kann Kontakt zu den Künstler über die Galerie aufgenommen werden!

 

 

(erschien zuerst in Schachmagazin 64 , Nr. 8/ 2004, S. 219)


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