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Der König der originellen Schachdenker

Der Jahrhundertzeuge David Bronstein wurde 80 Jahre und hasste Routine stets

von Harald Fietz (Text) und IM Miroslav Shvartz (Partien), März 2004

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   Am 19. Februar feierte David Ionowitsch Bronstein die Vollendung seines achten Lebensjahrzehnts. 1951 schickte sich der 1924 - nur einige Tage nach dem Tod Lenins - geborene Ukrainer an, den Weltmeisterschaftsthron zu besteigen. Doch ein denkwürdiges 12:12 gegen Mihail Botwinnik setzte ihn in die Reihe der "großen Zweiten" - neben Mihail Tschigorin, Karl Schlechter, Akiba Rubinstein, Paul Keres, Viktor Kortschnoi u.a. Ihnen gehört - trotz des missglückten Gipfelsprungs - dennoch die Bewunderung der Schachliebhaber weltweit. Bronstein steht synonym für ständiges Sondieren ausufernder Originalität. Klein von Statur reizte ihn zeitlebens nicht nur die sportliche Größe des Denkspiels, sondern das nie vollständig zu ergründende Wesen des Zusammenwirkens der 32 Figuren auf 64 Feldern. Sein Verlangen, nicht selten unkonventionelle Extreme einer Stellung auszuloten, stricht hervor. "Wenn man gegen ihn spielt, muss man immer auf das Unerwartete vorbereitet sein", schrieb Wassili Symslow anlässlich seines 50. Geburtstags. Paul Keres brachte die Neigung in seinen Kommentaren für das US-Magazin "Chess Life" regelmäßig auf den Punkt: "Verrückt" oder "normal" hieß es, wenn Bronstein gegen den Kombinationskünstler Tal Königsgambit wählte; "Inspiration" oder "Vorbereitung" als er gegen den Taktiker Ljubojevic einen ganzen Turm ins Angriffsgeschäft steckte. Man war sich oft nicht sicher, was der Moment gerade für den Gegner und die Schachwelt schlug. Nicht ohne Grund betitelte Garry Kasparow seine dreißigseitige Würdigung liebenswürdig mit seinem Spitznamen "Cunning Devik" (My Predecessors - Part II, Everyman 2003). Bronstein umgab meistens die Aura des "Trickreichen Zaubers". Ähnlich wie seinem Seelenverwandten Mihail Tal graulte ihm eher vor langweiligen, technischen Stellungen. Hieraus resultierte bisweilen eine schwächere Behandlung von Endspielen. Die subtilen Fehlgriffe in der 6., 19. und 23. Partie des WM-Kampfs können als Belege für zugespitzte Situationen angeführt werden.

   Doch dieses erste WM-Match unter FIDE-Obhut fand, obwohl es in Bronsteins Blütezeit von 1944 bis 1956 fiel, unter einem ihm wenig behagenden Stern statt. Schach musste in der Sowjetunion auch während der Konfrontationen in der Nachkriegsweltordnung als intellektueller Vorzeigesport für die Überlegenheit des Sozialismus herhalten. Ein Weltmeister hatte sich als Statthalter dieser Ideologie fügen. Hierin zeigte der 13 Jahre ältere Mihail Botwinnik schon seit den 30er Jahren standhafte Linientreue, um seine Erfolge daheim zu "vermarkten" und gegen Emporkömmlinge zu verteidigen. Mit seinen Beziehungen zum Parteiapparat erwirkte er einige Male ihm genehme Entscheidungen. Im Rückblick rechtfertigte Bronstein mit diesen Begleiterscheinungen eines geschlossen, rein auf Machtstrukturen fußenden Gesellschaftssystems seine latente Abneigung gegen die Weltmeisterbürde: "Ich hatte meine Gründe, nicht Weltmeister zu werden, weil ein derartiger Titel damals bedeutete, dass man in eine offizielle Welt der Schachbürokratie eintrat. Eine solche Stellung verträgt sich nicht mit meinem Charakter. Seit meiner Kindheit liebe ich die Freiheit, und ungeachtet des Landes, in dem ich aufwuchs, habe ich all die Jahre versucht, in diesem Geist zu leben." ("Der Zauberlehrling" 1997, Edition Olms, S. 17) Solche Einstellung prägte natürlich private und schachpolitische Erfahrungen mit.

 

David Bronsteins Auto-Biographie: Der Zauberlehrling

Nach dem Ende der Sowjetunion legte David Bronstein in deutscher Sprache mit seiner Auto-Biographie "Der Zauberlehrling" eine freimütige Lebensbeichte vor.

 

Privat zick-zack, schachlich steil aufwärts

   Als Bronstein ins Schulalter kam, siedelte die jüdische Familie 1930 aus der ukrainischen Provinz, wo sein Vater als Verwalter einer Mühle tätig war (die Mutter praktizierte als Ärztin), nach Kiew um. Um diese Zeit lernte der kleine David das königliche Spiel von seinem Großvater und erklomm bis 1938 auf Jugendturnieren fünf Leistungsklassen. 1935 schloss die kommunistische Partei seinen Vater aus, als dieser Bauern gegen korrupte Verhältnisse verteidigte, 1937 folge eine achtjährige Verbannung in den Gulag nördlich des Polarkreises. In dieser schweren Zeit des stalinistischen Terrors verschafften die Schachstunden im Pionierpalast dem heranwachsenden David unter Anleitung des erfahrenden Schachlehrers Alexander Konstantinopolski Abwechslung. 1940 gelang ein erster Aufstieg bei den Erwachsenen. Platz zwei bei der ukrainischen Meisterschaft hinter dem fünf Jahre älteren Freund Isaak Boleslawski, der kurz zuvor bei der UdSSR-Meisterschaft in einem Topfeld mit Botwinnik den fünften Platz teilte, öffnete Bronstein das Tor zur nächsten Etappe, einem Halbfinale zur Landesmeisterschaft. Doch diese Prüfung unterbrach im Juli 1941 - mitten im Turnier - jäh der nationalsozialistische Angriff auf die Sowjetunion. Wie Botwinnik schaffte der 18-Jährige 1942 wegen seiner Sehschwäche die Musterungsprüfung nicht und verbrachte die Jahre bis 1944 hinter der Front in Georgien, wo er Verwunden in Hospitälern mit Schach unterhielt, und zeitweilig in Stalingrad, wo ein Stahlwerk wieder aufgebaut wurde.

   Während andere Spitzenspieler bereits 1943 wieder Turnierpraxis erwarben, stieg Bronstein nach fast drei Jahren Pause mit einem Kaltstart im Februar 1944 ins UdSSR-Halbfinale in Baku ein und rückte auf Anhieb ins Finale. 1945 fiel auf Anraten seines Mentors Boris Wainstein eine richtungsweisende Entscheidung, als er nach Moskau zu Dynamo, dem Sportclub des KGB, beordert wurde. Wainstein leitete nicht nur den sowjetischen Schachverband, sondern besaß als Oberst der Staatssicherheit ausgezeichnete Kontakte innerhalb Berijas Geheimdienst, wo er als Direktor der Wirtschaftsabteilung postierte. Das Verhältnis zu Wainstein gestaltete sich sehr persönlich, da Bronstein einige Jahre ein Zimmer in dessen Wohnung bewohnte. Seine Eltern konnten nach dem zweiten Weltkrieg, obwohl ehemalige politische Häftlinge nicht im Umkreis von 100 Km um Moskau leben durften, durch Beziehungen an einem nur eine Reisestunde entfernten Ort wohnen, nachdem sie neue Papier ohne diskriminierende Stempel "erwarben". Außer zum Steuern gegen Aktionen der Botwinniktreuen nutzte Bronstein aber, soweit bekannt, "Vitamin B" kaum, um Vorteile herauszuschlagen. Solche Günstlingswirtschaft blieb ihm verhasst; er pflegte lieber die Freundschaft zum legendären Clubmitglied Lew Jaschin, dem Weltklassetorwart, den man 1963 als besten Fußballer Europas ehrte.

   Die professionelle, staatlich geförderte Schachkarriere verlief - trotz der wenigen Turniermöglichkeiten - in der zweiten Hälfte der 40er Jahre kometenhaft: 1945 bei der zweiten Teilnahme am Finale der Landesmeisterschaft Platz drei, 1946 Sieg bei der Moskauer Meisterschaft, 1947 Co-Sieg im gleichen Wettbewerb, 1948 Sieg beim Interzonenturnier im schwedischen Saltsjäbaden (ohne zuvor ein internationales Turnier gespielt zu haben!), 1948 und 1949 geteilter UdSSR-Meister, 1950 Co-Sieg beim Budapester Kandidatenturnier und Stichkampf-Gewinner gegen Boleslawski, mit dem ihn über drei Jahrzehnte später - nach dessen tragischem Tod 1977 (brach sich bei Glatteis ein Bein und starb im Krankenhaus an einer Infektion) - familiäre Bande verbinden sollten.

   Sein privates Glück nahm dagegen einen Zick-Zack-Verlauf: Die erste, 1948 geschlossene Ehe mit Olga Ignatjewa (u.a. Leningrader Frauenmeisterin 1941 und geteilte Zweite im Frauen-Kandidatenturnier 1952) ging - trotz der Geburt eines Sohns - schon nach einem Jahr auseinander, obwohl sie offiziell erst 1959 geschieden wurde, eine Liaison entzweite sich Anfang der 50er Jahre kurz vor der Hochzeit (insbesondere weil seine Auserwählte partout in die kommunistische Partei eintreten wollte), 1957 lernte er Marina Michailowa kennen, die er 1961 heiratete, die aber 1980 mit nur 48 Jahren verstarb. Schließlich ehelichte er 1984 die Musikprofessorin Tatjana Boleslawskaja, die 22 Jahre jüngere Tochter des befreundeten Eröffnungstüftlers (u.a. sizilianisches Boleslawski-System in der Najdorf-Variante). Ihr offenherziger Rückblick der Kreuzung beider Lebenswege seit 1950 befindet sich in der überaus lesenwerten kritischen Werkschau "Der Zauberlehrling" (mit 222 Partien).

 

Rivale Botwinnik als Gralshüter des Schacholymps

   Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Bronstein nur ein prinzipieller Nonkonformist sein konnte. 1945 weigerte er sich, das Anliegen von Botwinniks Freund Wjatscheslaw Ragosin zu unterstützen, dass dem parteiergebenen Vorkämpfer einen Wettkampf mit Weltmeister Alexander Aljechin zustehe. Wainstein unterstützte diese Antihaltung mittels seiner politischen Kanäle und mit dem Argument, dass der nationalsozialistische Kollaborateur Aljechin kein moralisch akzeptabler Gegner sei. Die Kluft zwischen den beiden großen Bs und ihren Umfeldern vergrößerte sich. Botwinnik drängte auf die Nichtberücksichtigung von Boleslawski für das WM-Turnier 1948, konnte aber Bronsteins Teilnahme am Interzonenturnier nicht verhindern. Ebenso wendete er 1950 Wainsteins Plan ab, ihn als Weltmeister in einem Dreiturnier mit den früheren "Kiew-Boys", den gemeinsamen Siegern des Budapester Kandidatenturniers, in die Zange zu nehmen.

   Eine andere Weigerung zeitigte für Bronstein 1976 weitreichendere Folgen. Die Resolution zur Verdammung des ohne offizielle Genehmigung emigrierten Kortschnoi unterzeichnete er nicht. Die Karpoworientierte Schachadministration verbannte ihn für 14 Jahre von der Teilnahme an auswärtigen Turnieren. Nur in sozialistischen Bruderstaaten konnte Bronstein, der 1973 letztmals ein WM-Qualifikationsturnier bestritt, einige Urlaube so "zufällig" legen, dass er z.B. 1977 in Budapest siegte. Die Situation änderte sich erst grundlegend mit den Auflösungserscheinungen der Sportbürokratie kurz vor dem Auseinanderfallen der Sowjetunion. Ende des Jahrhunderts holte Bronstein, - nach überstandener Krebsoperation Anfang der 90er Jahre - im hohen Alter auf zahlreichen Reisen durch Europa und Amerika viele Begegnungen und Besuche nach, die ihm zuvor so schmerzlich verwehrt waren.

 

David Bronstein

In den 90er Jahren genoss David Bronstein die neue Reisefreiheit. Als 70-Jähriger schaffte er in Hastings 1994/95 noch einen geteilten Sieg beim Challenger Open. Foto: Hartmut Metz

 

   Um die Mitte des 20. Jahrhunderts ahnte von diesen Gezeitenwenden niemand etwas; der Kalte Krieg bestimmte das außenpolitische Kalkül der Supermächte. Welche Art von Schachrepräsentant man nach der WM 1951 haben wollte, war nicht klar, aber letztlich blieb es beim bewährten, wissenschaftlichen Stil Botwinniks. Dieser legte die drei Jahre vor der Titelverteidigung wegen seiner Doktorarbeit ein Wettkampfpause ein. Bronstein perfektionierte in dieser Zeit seine Schachphilosophie, die mehr als üblich eröffnungstheoretisches Neuland absteckte und mit taktischen Verwicklungen Unübersichtlichkeit auf dem Brett schuf. Dagegen kam Botwinnik - wie später auch gegen Tal - nur mit Mühe zurecht. Er liebte Klarheit auf dem Brett; akribischer Vorbereitung und strategischen Prinzipien maß er hohe Bedeutung zu. Bezeichnenderweise charakterisiert die fünf Siege Botwinniks, dass vier durch Endspielleistungen nach dem Abbruch erreicht wurden. Bronsteins Gewinne klärten sich dagegen alle durch Abwicklungen innerhalb der 15 Züge vor der Zeitkontrolle im 40. Zug. Selbst bei seinem einzigen Endspielsieg in der 21. Partie entstand der Mehrfreibauer in dieser Phase. Die nachfolgende Partie steht exemplarisch für Bronsteins undogmatische Spielweise.

 










M. Botwinnik - D. Bronstein
Moskau (WM) 1951, Nimzowitsch-Indisch [E43]

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 Die königsindische Verteidigung wurde erst später zu Bronsteins Hauptwaffe. Im Match gegen Botvinnik wechselte er die Eröffnungen oft: Außerdem kamen noch Holländisch, Grünfeldindisch und am Ende des Matches dann Königsindisch auf das Brett. 4.e3 0-0 5.Ld3 c5 6.Sf3 b6 7.0-0 Lb7 8.Sa4 Eine andere Idee zeigte der sächsische Jugendspieler Manuel Feige bei der DEM 2002: [ 8.Ld2!? Weiß will nicht lange theoretische Diskussion führen und ist bereit, eine Stellung mit isoliertem Bauern zu spielen. Das war aber eine konkrete Entscheidung bei der Vorbereitung, die die Schwächen und Stärken des Gegners berücksichtigte. 8...cxd4 9.exd4 d5 10.cxd5 Sxd5 11.a3 Le7 12.Te1 Sf6 13.Lg5 Sc6 14.Dd2 Tc8 Feige-Rau, Winterberg 2002. ] 8...cxd4 9.a3 [ Ein anderer Zug 9.exd4!? folgte in der Partie Manolache - Iordachescu, Bucharest 2003. Obwohl Weiß die Partie verloren, war die Stellung nach 9...Te8 10.a3 Lf8 11.Sc3 d6 völlig spielbar] 9...Le7 10.exd4 Dc7 11.b4 Sg4 12.g3 f5 Noch befinden wir uns auch aus der Perspektive des Jahres 1951 auf bekanntem Terrain. Die Stellung kam bereits in Alatortsew - Lisitsin, Tiflis 1937 (13.Se1) vor. Mit seinem nächsten Zug versucht Botwinnik, der bekannt für seine Vorbereitungsideen war, das weiße Spiel zu verbessern. Dabei entsteht aber eine dynamische Stellung, die dem jungen Herausforderer besser liegt. Aus der heutiger Theoriesicht kann man sagen, dass die Idee mit f7-f5 in der Nimzo-Indischen Verteidigung weiterhin angewendet wird und als gut für Schwarz gilt. 13.Sc3 Der Springer muss ins Spiel zurück. 13...a6 14.Te1 Sc6 15.Lf1 Der Anfang eines gut aussehenden Planes. Konsequenter wäre aber, sofort [ 15.c5! mit den Ideen 16.Lf4 oder 16.d5, wonach die Stellung als besser für Weiß einzuschätzen ist.] 15...Sd8 16.Lf4 Ld6 17.Lxd6 Dxd6 18.Lg2 Sf7 19.c5 Dc7 20.Tc1 Tae8 21.Sa4 [ Vielversprechend ist 21.Dd2 , denn Weiß ändert die Stellung nicht und hält den Druck aufrecht.] 21...b5 22.Sc3 f4 23.d5 fxg3 24.fxg3 exd5 25.Dd4?! Ein Versuch, eine dynamische Lösung zu finden. Weiß besitzt danach aber keinen Vorteil mehr. [ Nach einer ganz normalen Fortsetzung 25.Txe8 Txe8 26.Sxd5 steht Weiß aufgrund der besseren Bauernstruktur immer noch besser.] 25...Sf6 26.Sh4 Te5?! Lässt dem Gegner die Möglichkeit, wieder bessere Stellung zu erreichen. [ Notwendig war 26...d6, um den schwachen Bauern abzutauschen] 27.Txe5 Dxe5 28.Dxe5 Sxe5 29.Sf5 Sc4 30.Td1?! Für Botwinnik ist der Ausgleich zu wenig und er überschätzt seine Möglichkeiten. Nach [ 30.Se7+ Kh8 31.Sexd5 ist die Stellung zwar nicht einfach zu gewinnen, aber die Chancen liegen trotzdem auf der weißen Seite.] 30...Kh8 31.Te1? Die nächste Ungenauigkeit. [ 31.Sd6!? wäre einigermaßen spielbar gewesen, obwohl Schwarz nach 31...Lc6 Bauern mehr behält] 31...Sxa3 32.Sd6 Lc6 33.Ta1 Sc2 34.Txa6 d4?! Macht die Sache ganz schön kompliziert. Die einfache und konsequente Fortsetzung [ 34...Sxb4 wäre eindeutig besser.] 35.Scxb5 Lxg2 36.Kxg2 Sg4 37.Sf5? Der letzte Fehler. Weiß muss natürlich das Feld f2 decken, die Ausführung ist aber nicht sauber. Nach [ 37.Se4 ist überhaupt nicht klar, wie Schwarz sich behaupten kann.] 37...d3 Nun ist es zu Ende, denn der Freibauer ist nicht ohne materielle Verluste aufzuhalten. 38.Td6 Txf5 39.Txd3 Sge3+ Mit Matt in zwei Zügen. Eine typische Bronstein Partie - charakterisiert durch die ständige Suche nach Dynamik (manchmal auf Kosten der Strategie). Er stellte dem gefährlichen Gegner Probleme, die er zum Schluss nicht lösen konnte. 0-1

 

   Dass Botwinnik mit dem legendären Endspielsieg des Läuferpaars gegen das Springerpaar in der 23. Begegnung ausglich, gehört zu den großen Leistungen der Schachgeschichte. Im letzten Augenblick gelang ihm, dem Herausforderer seine Spielweise aufzuzwingen. Bronsteins Gesamturteil fiel gleichwohl positiv aus, denn es ist das Credo, mit dem er noch lange in der Weltspitze mitmischen sollte: "Das scharfe kombinatorische Spiel der Kiewer Schule war viel interessanter als die klassische Strategie, derer sich Mihail Botwinnik bediente." (Der Zauberlehrling, S. 89)

 

Erfolgreich und originell

   Noch bis mindestens zum Kandidatenturnier 1956 muss man Bronstein zu den fünf weltbesten Spielern rechnen. Mit dem geteilten zweiten Platz im Kandidatenturnier von Zürich 1953 und dem glanzvollen Sieg beim Interzonenturnier in Göteborg 1955 unterstrich er seine Ausnahmestellung. Danach meinte es das Schicksal weniger günstig mit ihm: Beim Interzonenturnier 1958 in Portoroz verlor er in der Schlussrunde gegen den philippinischen Außenseiter Rodolfo Cardoso und musste dem 15-jährigen Bobby Fischer den Vortritt lassen; 1964 beim Interzonenturnier in Amsterdam fiel er - wie Leonid Stein - der Regel zum Opfer, dass nur drei Spieler einer Nation in die Matchkämpfe kommen durften. Insgesamt nahm Bronstein zwischen 1944 und 1975 an 20 Endrunden der UdSSR-Meisterschaften teil (nur Geller und Taimanow kamen mit 23 Einsätzen auf mehr), gewann vier Goldmedaillen mit dem Abonnementolympiasieger und errang zweimal die Mannschaftseuropameisterschaft mit. Seine Maximen verewigte er u.a. im vielgerühmten Turnierbuch über Zürich 1953. Zu dessen Erfolg meint er: "Manchmal glaube ich, dass dieses Buch deshalb so beliebt ist, weil ich über die Schachkunst rede, über die Schönheit, die Technik, über alltägliche Fehler, Stärken und Schwächen des menschlichen Charakters, kurz: über alles, was Schach so attraktiv macht." ("Der Zauberlehrling", S.19) Die Begegnung mit Julio Kaplan, dem puertoricanischen Jugendweltmeister von 1967, bei seinem letzten Turnier im Westen vor dem Bann von 1976 zeigte die ganze Bandbreite solchen Schachschaffens.

 










J. Kaplan - D. Bronstein
Hastings 1975/76, Französisch [C11]

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 dxe4 5.Sxe4 Le7 6.Lxf6 gxf6 Bronstein gibt seine kämpferische Einstellung preis - die Bauernstruktur wird bewusst verändert, einerseits verschlechtert, weil der Königsflügel geschwächt wird, andererseits verbessert indem das wichtige zentrale Feld e5 unter Kontrolle gebracht wird. 7.Sf3 Sd7 8.Dd2 c5 9.d5 Eine sehr verpflichtende Fortsetzung, vor allem gegen so einen dynamischen Spieler wie Bronstein. Gute Alternative wäre [ 9.0-0-0 mit kompliziertem dynamischen Spiel, was in der Partie Polgar,J. - Short, Pamplona 1999 gespielt wurde. ] 9...f5 10.dxe6 Ein Zeichnen, das die Auswahl der Eröffnungsvariante richtig war - der Partiezug ist zwar möglich aber die Fortsetzung [ 10.Sc3 Lf6 11.0-0-0 Ivanovic - Swjaginzew, Jugoslawien 2000 wäre besser gewesen] 10...fxe4 11.exd7+ Dxd7 12.Dc3 Das Beste. [ Der Zug 12.Dxd7+?! führt nach 12...Lxd7 13.Se5 Le6 14.Lb5+ Kf8 15.0-0-0 Tg8 16.g3 Sack - Bednarski, Hamburg 1981 16...Lg5+! 17.Kb1 Ke7 18.The1 Tad8 zum Vorteil für Schwarz] 12...0-0 13.Sd2 Df5 Es ist eine völlig unklare Stellung entstanden - Schwarz hat Entwicklungsvorsprung, dafür aber eine anfällige Bauernstruktur - also eine für Bronstein prädestinierte Konstellation! 14.0-0-0 Unterschätzt das schwarze Spiel. Die Alternative [ 14.Dg3+ Kh8 15.0-0-0 wäre deutlich vielversprechender - Weiß muss es bloß schaffen, seine Figuren des Königsflügel zu entwickeln, dann steht er sogar besser! ] 14...Dxf2! Eine tapfere und konkrete Entscheidung! Schwarz schafft Raum für die Dame und die Läufer. 15.Sxe4 Df4+ 16.Sd2 Der arme Springer weiß noch nicht, dass er bis zum Ende der Partie gefesselt sein wird ... 16...Lg4 Entwicklung mit Tempo - das Beste, was man sich vorstellen kann! 17.Te1 Lg5 18.Ld3 Tae8 Schwarz hat alles perfekt eingefädelt - der Gegner kann sich kaum bewegen. 19.Tef1 De3 20.h3 Le2 21.Tf5 [ Auf 21.Te1 kommt 21...Df2! und Weiß kann sich von der Fesselung nicht befreien] 21...Lh6 22.Lxe2 Verliert sofort, es ist aber sehr schwer, für Weiß etwas Spielbares zu empfehlen. 22...Dxc3 Bronstein weist in "Der Zauberlehrling" auf einen weiteren, entscheidenden Faktor hin: "Ich hatte noch eine halbe Stunde für 18 Züge, Kaplan hatte noch eine Minute. Ich galube, er sah, was auf ihn zukommen würde, wollte es sich aber zeigen lassen." (S.221) 23.bxc3 Txe2 24.Td5 Txd2 25.Txd2 Td8 26.Thd1 c4 Eine hübsche Zugzwangsstellung! Nachdem alle Bauernzüge gemacht werden, kann Weiß sich mit dem Turm auf d2 verabschieden. Deswegen gab Kaplan auf. 0-1

 

Denken ohne Limit

   Neben allen Leistungen auf dem Brett muss der Schachvordenker Bronstein gewürdigt werden. Ihm ging es ebenso um neuartige Wettkampfformen und -formalien. Schachdenken erweitern und noch genauer begreifen sollten seine Vorschläge, die er bis 1988 fast ein Vierteljahrhundert meist an exponierter Stelle mit großer Massenwirkung (seiner Kolumne in der Regierungszeitung "Iswestija") präsentierte. Was heute selbstverständlich gilt, brach sich seinerzeit durch seinen Nachdruck Bahn:
 

 
   Seine Reflektionen über das königliche Spiel zielten immer darauf, neue Anhänger zu gewinnen. Unkonventionell und nonkonform ging er vor. Eigentlich hätte seine Autobiographie nicht "Der Zauberlehrling", sondern "Der Zaubermeister" heißen müssen. Einer der Originellesten unter den Großen des Metiers wird hoffentlich noch viele Jahre seine Stichworte einer derzeit zerrissenen Schachwelt geben.

 

 

(erschien zuerst in Schachmagazin 64 , Nr. 4/ 2004, S. 105 - 107)


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