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Wenn Fischer streitet oder wie man Schacherinnerung lebendig hält

Die Königliche Bibliothek der Niederlande hütet Schätze für jedermann

von Harald Fietz, Dezember 2001 - die Bilder wurden von der Königlichen Bibliothek zur Verfügung gestellt

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

   Ein halbes Dutzend Fotokopien hat Henk Chervet für einen britischen Autor in den A4-Umschlag mit den großen gold-gelben KB-Initialen gesteckt. Wieder ist ein Auftrag erledigt. Anno 2002 jährt sich zum 30. Mal der Jahrestag des berühmtesten aller WM-Kämpfe: Fischer gegen Spasski. Eine neue Biographie ist in Arbeit und eigentlich galt die Suche einem möglichen Briefwechsel des Amerikaners mit dem damaligen FIDE-Präsidenten Max Euwe im Vorfeld des Matchs von 1972. Doch hierzu ist für gewöhnlich das Max-Euwe-Zentrum in Amsterdam die richtige Adresse und auch die Universitätsbibliothek der niederländischen Metropole verfügt über reichlich Material von und über den fünften Schachweltmeister. Aber ganz umsonst war die Anfrage an die Koninklijke Bibliotheek (KB) in Den Haag nicht. Der Schachverwalter der Schachabteilung fand einen noch unarchivierten "Schatz" - Handschriftliches und Anwaltschreiben einer jener berühmt-berüchtigten Auseinandersetzungen des exzentrischen Ausnahmekönners mit Organisatoren.

   1970 feierte der Schachclub Leiden sein 75-jähriges Jubiläum. Ursprünglich wollte man ein Match zwischen Fischer und Michail Botwinnik abhalten. Während der damals fast 60-jährige Ex-Weltmeister verständlicherweise eine Partienbeschränkung auf 16 bis 18 Begegnungen vorschlug, insistierte der 27-Jährige, der 1969, im Jahr der Verhandlungen, nur eine einzige Turnierpartie bestritt, auf eine unbegrenzte Zahl, bis jemand sechs Siege erreicht. Die frustrierten Organisatoren schlugen schließlich ein Rundenturnier mit vier Spielern vor, die viermal gegeneinander antreten sollten. Doch auch das war dem Superstar der Szene ein Dorn im Auge. Die sowjetischen Absprachen beim Kandidatenturnier in Curacao 1962 verursachten sein Trauma. Fischers Rechtsberater forderte kurz und bündig, dass keine zwei Spieler aus dem gleichen Land kommen dürfen. Die Teilnahme zerschlug sich, so dass neben Weltmeister Boris Spasski Botwinnik als zweiter Vertreter der UdSSR sein letztes Turnier spielte und Bent Larsen und Hein Donner das Feld komplettierten.

 

Michail Botwinnik

Michail Botwinnik

 

   Was sich aus dem handschriftlichen Gekritzel des Amerikaners, welches mit seinen charakteristischen wirren - fast umkippenden - Großbuchstaben mehr einer Schachnotation denn einem Schreibstil ähnelt, letztlich für einen biographischen Abriss eignet, bleibt abzuwarten. Für den Bibliothekar ist es bereits befriedigend, neues Material zugänglich gemacht zu haben. Hierin liegt die Herausforderung, die auf zwei Säulen fußt: Konservierung und Katalogisierung. Doch was einfach erscheint, ist - wie der Turmbau zu Babel - eine praktisch unlösbare Herkules-Aufgabe. Vielfach sind es die äußeren Rahmenbedingungen, die das Tempo bestimmen.

   Im Napoleonischen Zeitalter wurde die Nationalbibliothek der Niederlande 1798 gegründet. 320 Angestellte hat sie heute, die einen Etat von 46 Millionen Gulden verwalten und seit 1993 als eigenständige Körperschaft vom Ministerium für Erziehung, Kultur und Wissenschaft finanziert werden. Der Bestand von 3,3 Millionen Einzelstücken umfasst allein 2,5 Millionen Bücher, was einer Länge von 48 Kilometern entspricht. 30 Spezialsammlungen sind die Herzstücke der wissenschaftlichen Abteilung. Doch diesen Begriff sollte man nicht zu eng auslegen, denn die umfangreichen Sammlungen an Koch- und Kinderbücher zählen ebenso dazu wie die für Kontinentaleuropäer unfassbar stattliche Zahl von Bänden über den Cricket-Sport.

   Die Schach- und Damespielabteilung umfasst 40.000 Einzelposten. Ihre Entstehung verdankt sie dem Erwerb von 750 Schachbüchern und -manuskripten der Privatsammlung von Antonius van der Linde im Jahre 1876. In diesem Jahr wurde der gebürgte Haarlemer vom König von Preußen zum Bibliothekar der Königlichen Bibliothek in Wiesbaden ernannt. Seine Kontakte ins Deutsche Reich bestanden schon lange, da er 1861/62 den Doktor der Philosophie in Göttingen erwarb und 1871 bis 1874 in der Königlichen Bibliothek in Berlin arbeitete. Seine umfangreichen Sprachkenntnisse und das Interesse für Schachgeschichte befähigten ihn, im 19. Jahrhundert grundlegende Beiträge zur Quellenforschung beizusteuern.

 

Antonius van der Linde

Antonius van der Linde

  

   Der zweite Namensgeber der Schachsammlung wurde Meindert Niemeijer, der zwischen 1926 und 1964 Direktor einer großen Versicherung in Rotterdam war und seit 1924 Schachbücher sammelte. Daneben umfasste sein Spektrum an schachgeschichtlichen Publikationen Themen wie Schachprobleme, Schachbibliotheken, Schachclubs, Schachfiguren und Schachheraldik. Nach dem 2. Weltkrieg spendete er seine Sammlung von 7.000 Einzelstücken der KB, und seit 1948 trägt die zusammengelegte Sammlung den Namen Bibliotheca Van der Linde-Niemeijeriana. Systematisierung war die erste Pflicht: 1955 erschien der Katalog zur nunmehr weltweit zweitgrößten öffentlichen Schachbuchsammlung nach der US-amerikanischen Bibliothek von Cleveland.

 

Meindert Niemeijer

Meindert Niemeijer

 

   1956 erweiterte man den Bestand um 500 Bücher zum Damespiel und strebt seither auf beiden Gebieten danach, das 1948 vereinbarte Prinzip der stetigen Vervollständigung zu erreichen. Mit einem Etat von zunächst 22.000 Gulden im Jahr 2002 wird es eng werden, die Balance zwischen Erwerb von neuen und alten Büchern zu halten. Doch was man hat, das kann sowohl den schachhistorisch interessierten wie den normalen Schachfan begeistern.

   Allein der öffentlich zugängliche Leseraum bietet ungefähr 10.000 Bände, überwiegend aus dem alten Bestand der Niemeijer-Sammlung. Hier ist besonders die große Anzahl von osteuropäischen Publikationen und Bänden der sowjetischen Schachära zu nennen, die selbst ungewöhnliche Bände wie ein vierbändiges Werk zur Schachtheorie von Max Euwe in kyrillischer Blindenschrift umfasst. Alte Turnierbände der ruhmreichen Turniere im ehemaligen Ostblock und verschiedenste Periodika aus dem angelsächsischen Sprachraum des 19. und 20. Jahrhunderts sind die eine Sache, aber die Aktualität kommt ebenfalls zu ihrem Recht. Die vollständigen Informatoren und New-in-Chess-Jahrbücher und 150 Schachzeitungen sind eine Fundgrube für alle Schachspieler, die ihren Schachhorizont nicht nur per Mega-Datenbank-Silberscheibe erweitern - gleichwohl man den Laptop ruhig mitbringen kann.

   Sechs Arbeitsplätze bietet allein die "Werkbank" des Lesesaals. An den Wänden hängen die Schachgrößen der 50er Jahre. Tuschezeichnungen der prominentesten Teilnehmer der Schacholympiade in Amsterdam 1954 versetzen den Besucher zurück in glorreiche Zeiten. Ein konventionelles Schachbrett darf da natürlich nicht fehlen. So lässt einen die Suche nach Partien und Fakten, der Erfahrungsaustausch oder der Plausch mit Gleichgesinnten an diesem ruhigen Ort schnell vergessen, dass sich die KB unmittelbar neben dem hektischen Treiben des Den Haager Zentralbahnhofs befindet.

 

Der Lesesall der Königlichen Bibliothek der Niederlande

Der Lesesall der Königlichen Bibliothek der Niederlande

 

   Für die kunsthistorisch Veranlagten empfiehlt sich, am futuristischen rot-schwarzen Schachinterieur im hinteren Teil des Saales zur Analyse Platz zu nehmen. Hier steht seit kurzem ein Nachbau des berühmten Schachtischs für den Arbeiterklub, den Alexander Rodchenko, ein herausragender Vertreter des russischen Konstruktivismus, 1925 für die Pariser Ausstellung "Exposition Internationale des Arts Decoratifs et Industriels" entworfen hat.

   Zurück in der Gegenwart erleichtert ein Bibliothekscomputer den Zugang zum Archiv, falls man im Karteikartensystem, welches bis 1980 in Funktion war, nicht fündig wird. Manuskripte, Bücher vor 1800 und andere seltene Kopien müssen allerdings in einem separaten Lesesaal in Augenschein genommen werden. Wer sich auf einen Besuch vorbereiten will, kann dies mittels Online-Katalog machen (www.kb.nl), über den Allgemeinen Katalog oder mit einem Extra-Modus für den Niemeijer-Katalog von 1955. Ein Tipp für Organisatoren, die ihrem Turnier ein besonderes Ambiente geben wollen, könnte die Sammlung von Schachpostern berühmter Turniere sein. Diese sind für Ausstellungen ausleihbar (einige Exemplare sind - ebenso wie die Zeichnungen von 1954 - im Internet einsehbar).

   Anfragen können direkt an Henk Chervet gerichtet werden (Henk.Chervet@kb.nl). Der 47-Jährige betreut seit 1. Oktober 2001 allein die Schachabteilung. Die vormalige Leiterin Henriette Reerink, die auf dem Lasker-Kongress Anfang des Jahres einen wichtigen Beitrag zu Laskers Wirken in den Niederlanden lieferte, wurde zu einem internen Spezialprojekt delegiert - der Mikroverfilmung und Digitalisierung alter Bände, die vom Säurefraß betroffen sind. Der Hobby-Spieler, der mit einer Wertungszahl von 1500 in der lokalen Liga beim SV Wassenaar dem königlichen Spiel frönt, ist seit 1993 in der Schachabteilung tätig - insbesondere bei der Umstellung auf Computererfassung. Neben Büchern sind andere Materialien, wie die riesige Kollektion von Schachspalten aus Tageszeitungen weltweit, noch völlig ungesichtet. 24 Stunden oder drei Arbeitstage seines Jobs kann er neben Tätigkeiten im allgemeinen Bibliotheksbetrieb wöchentlich dem Wachhalten der Schacherinnerungen widmen. Gern würde er - wie sicher viele Schachhistoriker - hierbei mit mehr Institutionen kooperieren, aber dazu bedarf es einer noch stärkeren Verflechtung der Standorte und Kontakte.

   Auch Deutschland ist in dieser Beziehung kein Vorreiter, obwohl beispielsweise mit dem Bestand des Privatsammlers Lothar Schmid ein unschätzbarer - allerdings weitgehend unsystematisierter - Fundus existiert. Welch eine Vision wäre es, dieses Schach-Kulturerbe als Zentrum der deutschen Schachforschung in einem internationalen Netzwerk an einem ansprechenden Bibliotheksstandort zu wissen, der dem Schach einen exponierten gesellschaftlichen Stellenwert verleihen würde. Und sicher würde auch Bobby Fischer, der Schmid als Person des Ausgleichs akzeptierte, keinen Streit beginnen.

 

Infos

Koninklijke Bibliotheek
Prins Willem-Alexanderhof 5
P.O. Box 90407
2509 LK Den Haag
Tel. +31 / 70 / 314 09 11
e-mail: info@konbib.nl
www.kb.nl (in Englisch unter Special Collections)

Öffnungszeiten: Montag bis Freitag 9 - 17 Uhr (Dienstag 9 - 20 Uhr)

Tagespass 5 Gulden

Anreise mit Bahn: Direkt neben dem Endbahnhof Den Haag CS (ca. eine halbe Stunde vom Airport Amsterdam-Schipol)


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