Vorstellungswelten auf der SpurDr. Ulrich Sieg wandelt erfolgreich zwischen zeitgeschichtlicher und schachlicher Forschungvon Harald Fietz, Mai 2002 |
Ulrich Sieg liebt Pläne. Solche, die er selbst auf 64 Feldern produziert, und solche, die Philosophen und Publizisten einst zur Deutung ihrer Zeit entwarfen. Für beide Arten der Reflektion ist der gebürtige Lübecker bereits ausgezeichnet worden: 1995 verlieh ihm der Weltschachverband den FIDE-Meister-Titel; 2000 erhielt er vom Verband der Historikerinnen und Historiker den prestigeträchtigen Nachwuchspreis. "Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg - Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe" heißt seine beim Akademie-Verlag veröffentlichte Habilitationsschrift. Ein detaillierter Blick auf Anfeindungen und Ausgrenzungen im Kaiserreich, die die Rückbesinnung auf jüdische Identität verstärkten - insbesondere die Orientierung auf das Ostjudentum. Mit Akiba Rubinstein, Ossip Bernstein und Samuel Reshevsky an der Spitze haben bekanntlich zahlreiche herausragende Schachspieler dieser Herkunft in den Jahrzehnten nach dem Jahrhundertwechsel 1900 den Weg aus Osteuropa in den Westen gemacht. Sie stammten aus einem Kulturkreis, der - zumindest aus Sicht des akkulturierten jüdischen Bildungsbürgertums - aufgrund des Krieges im Osten und den politischen Neugliederungen mehr Aufmerksamkeit erhielt. Sieg fokussiert daher - neben den intellektuellen Diskursen rund die Kriegsereignisse - insbesondere auf die Verherrlichung ursprünglicher Religiosität als Element für den Entwurf eines neuen Weltbildes. Eine jüdische Generation, die die Aufstiegsbarrieren abseits "freier" Berufe zu spüren bekam (z.B. an Universitäten, dem Militär, Justiz und Verwaltung), fieberte aufgrund der Erfahrungen des umfassenden Zivilisationsbruchs im Ersten Weltkrieg und wegen wachsender Skepsis am Fortschrittsglauben der Moderne auf eine kulturelle Erneuerung hin. Das idealisierte Gedankengut des Ostjudentums erfüllte die Sehnsucht nach politisch-religiösen Deutungen im Sinne einer einheitlichen, zionistischen Weltanschauung.
Dr. Ulrich Sieg
Die vielschichtigen Denkströmungen waren auch jenem Mann bekannt, dem Ulrich Siegs außer-universitäres Forschungsinteresse gilt. Schachweltmeister Emanuel Lasker hatte im Kaiserreich und der Weimarer Republik nicht bloß am Brett seinen Platz, sondern erwarb sich Verdienste mit mathematischen Arbeiten, philosophischen Schriften, Versuchen als Dramatiker, Spielerfinder und politischer Kommentator. Doch auch er bekam Exklusionsmechanismen zu spüren. Sein Streben nach einer Professur für Mathematik scheiterte in England und Amerika; im Deutschen Reich versuchte er es erst gar nicht. Trotzdem war er bis zu seiner Emigration 1933 in philosophische und naturwissenschaftliche Diskussionen mit führenden Gelehrten seiner Heimat einbezogen. Die schachkulturelle Forschung steht aber selbst bei diesem exponierten Multitalent am Anfang. Obwohl Sieg und seine Mitstreiter die intensive Quellensuche zum jüngsten Lasker-Sammelband bereits Mitte der 90er Jahre begannen, sieht der Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Marburg noch ein weites Feld zu beackern: "Man muss das Schach auch im Spiegel der Epochen sehen. Es gibt beispielsweise die Idee, in Berlin im Jahr 2003 einen Kongress zu "Schach und bürgerliche Welt im 19. Jahrhundert" zu veranstalten. Und speziell zu Lasker sind noch viele Schnittstellen zu gesellschaftlichen Bereichen seiner Zeit zu entdecken. Wenn man die Namen seiner Kontakte hat, dann beginnt die Kleinarbeit. Vieles ist momentan ungesichtet."
Doch bei allem Forschergeist, die Schachpraxis darf nicht zu kurz kommen. Nach einer erfolgreichen Jugendkarriere (Meister der A-Jugend in Schleswig-Holstein 1977 und 1978, geteilter dritter Platz bei der Deutschen A-Jugendmeisterschaft 1979, Deutscher Schulmannschaftsmeister 1977 und 1978 und Deutscher Hochschulmannschaftsmeister 1980) sind es inzwischen 20 Spielzeiten in höheren Ligen für den Lübecker SV von 1873 e.V. - zumeist in der 2. Bundesliga Nord und in der Aufstiegssaison 1999/2000 gar vier Einsätze der Erstbundesligamannschaft. Derzeit bleibt es bei gelegentlichen Einsätzen im zweiten Team in der Nordstaffel des Bundesligaunterbaus. Die Schachforschung führte ihm am 12. Januar 2001, einen Tag nach Laskers 60. Todestag, mit einer noch sehr aktiven Schachlegende auf den 64 Feldern zusammen.
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Kortschnoi,V - Sieg,U [A68]
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Elf Monate später nahm Viktor, der Schreckliche, Revanche. Aber richtig böse konnte ihm der Historiker nicht sein; schließlich trifft man sich doch bei der Lasker-Gesellschaft zu einem gemeinsamen Anliegen: Den Vorstellungswelten des Universaldenkers näher zu kommen!
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Kortschnoi,V - Sieg,U [B02]
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