Landesrechnungshofpräsident kalkuliert besserViele neue Gesichter beim letzten Berliner Politikerturnier unter der Regie von Alfred Seppeltvon Harald Fietz, Dezember 2003 |
"Da hat Kasparow aber Glück gehabt!" Mit diesem Einwurf kommentierte Saarlands Ministerpräsident Peter Müller (CDU) - auch am Wochenende immer zu einem parteipolitischen "Zwischenton" bereit - die bedauerliche Absage der Schnellpartie per Satellitenschaltung zwischen dem sich in New York auf einen Computerwettkampf vorbereitenden Ex-Weltmeister und Bundesinnenminister Otto Schily. Dem SPD-Politiker bringt gerade das Wochenende reichlich Verpflichtungen in Sachen Sport. So wartete am Abend des 8. November der Sportpresseball in Frankfurt/M. Doch für sieben Partien mit und drei Punkte gegen die Berufskollegen reichte es beim 13. Berliner Politikerturnier. Dieses litt zwar mit 57 Teilnehmern unter vielen kurzfristigen Absagen, hat aber - wie zahlreiche Presse- und TV-Vertreter offenbarten - an gesellschaftlichem Renommee nichts eingebüßt. So musste der Weltranglistenerste in Amerika nach dem Frühstück eben gleich ran an das Variantenbüffeln mit Hightech; einen anderen Partner als den ihm bekannten Minister wollte er nicht.
Derweil wollte im Hotel Berlin am Lützowplatz der bayerische Kommunalpolitiker Volker Wildt aus Gauting seinen vierten Sieg in Folge erringen. Aber diesmal hatte Caissa einen Neuling auserkoren. Mit hauchdünnen Vorsprung siegte Ralf Seibicke aus Magdeburg, nachdem erst die zweite Feinwertung gegenüber den 66-jährigen Wildt einen winzigen Punkt mehr in der mittleren Buchholzwertung ergab! Zahlenspiele ist der 42-Jährige seit März 2003 als Präsident des Landesrechnungshofs von Sachsen-Anhalt ohnehin gewohnt, doch auch auf den 64 Feldern ist er kein Anfänger. Als Präsident von SV Rochade Madgeburg 96 spielt er in der Oberliga Ost und weist eine DWZ von 2129 aus. Bei seinem ersten Berlin-Auftritt "schlich" er sich in den Schlussrunden an die Spitze.
Ein neuer Sieger in Berlin: Der Magdeburger Ralf Seibicke ist es auch beruflich gewohnt, Positionen zu überprüfen. Foto: Harald Fietz
Dabei profitierte er von Edmund Lomers Fauxpas. Der Dauergast beim Politikerturnier hatte es nach sechs Runden mit 5,5 Punkten als alleiniger Tabellenführer in der Hand, den Pokal zu holen. Doch in einer gewinnträchtigen Stellung mit Mehrqualität manövrierte sich der Eckernförder Ratsherr von der CDU ohne Zeitbedrängnis in ein Matt.
Der turnierentscheidende Moment: Edmund Lomer sitzt gegen Dr. Jürgen Schwarz in der Mattfalle. Vor einigen Augenblicken stand der weiße König noch auf f2, bevor Schwarz ein Turmschach auf h2 und nach dem Zug Ke1 auf h1 gab. Dabei wollte Weiß mit dem nicht auf dem Bild zu sehenden Turm auf f7 dem König auf a8 den Garaus bereiten. Foto: Harald Fietz
Damit blieb nur ein geteilter vierter Platz übrig (Dietmar Lingemann war sowohl in beiden Buchholzwertung als auch der Anzahl der Sieg gleichauf). Davon profitierte auch der Letzte im Siegertrio mit sechs Punkten, der Schatzmeister der sächsischen CDU Dr. Jürgen Schwarz, der einen Tag vor seinem 42. Geburtstag zudem als bester Halbamateur (mit Wertungszahl unter 1900) einkam. Seine schachliche Heimat liegt beim Dresdner SC 1898, wo er mit DWZ 1744 in der 2. Landesklasse aktiv ist.
Gleichwohl die vorderen Plätze erneut größtenteils Beute der aktiven Vereinsspieler unter den Politikern wurden ("die Profi" laut der Sprachregelung in diesem Wettbewerb), überraschte auf dem geteilten Platz vier Lingemann, der Mitarbeiter des prominenten Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Bündnis90/Die Grünen), mit 5,5 Punkten. Trotzdem er nicht mehr bei seinem Verein, dem SC Kreuzberg, wo er seit 1977 Mitglied ist und bereits die goldene Ehrennadel erhielt, in einer Mannschaft spielt, merkte man ihn ebenfalls Zockerqualitäten besonders in ausgeglichenen Spielsituationen an. Sein Chef, für den er im Herbst 2002 bei der Bundestagswahl die erfolgreiche Kampagne im Berliner Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg für das erste Bundestagsdirektmandat des kleineren Regierungspartners organisierte, zeigte sich weniger in Übung und errang nur zwei Siege.
Der grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele baute bei seinem Wahlkampf auf das strategische Geschick seines schachspielenden Mitarbeiters. Foto: Harald Fietz
Im unteren Drittel landete auch ein weiteres politisches Schwergewicht, das erstmals kam: Der anfangs so gutgelaunte Peter Müller nutzte zwar gleich die Wartezeit vor dem Turnier zum Warmspielen, aber im Wettkampf reichte es bloß zu 2,5 Punkten.
Saarlands Ministerpräsident Peter Müller hat an und neben dem Brett seine Freude. Foto: Harald Fietz
In diesen Regionen tummelten sich auch einige der internationalen Gäste aus Diplomatie, nationalen Parlamenten und Städteregierungen (u.a. Jan Foltin, der Botschafter der Slowakei, Dr. Goran Rafajlovski, der Botschafter Makedoniens, Avi Primor, der ehemalige Botschafter Israels). Stets an den Spitzenbretter mischte dagegen Leo Tito Ausan, der zweite Sekretär der philippinischen Botschaft, mit. Obwohl er erst vor einem Jahr von einer Station in Südafrika nach Deutschland kann, spielte er bereits eine Saison in der vierten Mannschaft des SK Zehlendorf und weist nach vier ausgewerteten Turnieren eine DWZ von 1903 aus. Platz sechs mit fünf Punkten und der besten Buchholzwertung überhaupt bestätigen seine solide Leistung, die nur durch die Abschlussniederlage gegen den Sieger Seibicke getrübt wurde.
Leo Tito Ausan von der philippinischen Botschaft lag lange Zeit gut im Rennen. Foto: Harald Fietz
Ebenfalls durch einen Verlust in Runde sieben (gegen Wildt) wurde der litauische Sozialdemokrat Julius Sabatauskas zurückgeworfen. Mit 4,5 Punkten landete das Mitglied des Seimas, dem nationalen Parlament, auf Platz zwölf. Dass Schach im größten baltischen Staat unter Politikern populär ist, weiß man in Deutschland durch einige Auftritte des ehemaligen Parlamentspräsidenten Vytautas Landsbergis, doch der 45-jährige Sabatauskas ist neben seinem politischen Amt auch Präsident des litauischen Schachverbands. Sicher muss man sein Kommen auch als ein sportpolitisches Zeichen verstehen, denn in nicht einmal einem halben Jahr wächst Europa im Osten mit neuen Nachbarn.
Die Symbiose zwischen Politik und Schach in Litauen gefunden: Julius Sabatauskas aus Vilnius trat erstmals beim Politikerturnier an. Foto: Harald Fietz
Den Stellenwert solcher Kontakte unterstreicht ebenfalls, dass "Lietuvos Rytas", die größte Tageszeitung des Landes, ihre Deutschlandkorrespondentin Jolita Venckute schickte. Vielleicht sollten deutsche Schachfunktionäre bald aus dieser geografischen Richtung im Erfahrungsaustausch Anregungen suchen, wie man durch ein Zusammenrücken zwischen Politik und Sport mehr Öffentlichkeit für das königliche Spiel schafft. Heuer bekam erst einmal Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, auf der schachpraktischen Ebene neue Einsichten. Henkel wurde in der Endabrechnung hinter dem Parlamentarier aus Vilnius Zweiter in der Amateurwertung (unter DWZ 1700).
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Sabatauskas,J - Henkel,H [C68]
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Dicht umlagert waren natürlich die entscheidenden Partien, in denen auch frühere Sieger aufeinander trafen. Prof. Dr. Jens Reich, ehemals als Bürgerrechtler in der letzten Volkskammer der DDR aktiv, fördert seine Schachpraxis heute als Mitglied der Berliner Betriebssportgruppe Wittenauer Heilstätten. 1997 errang er mit dem Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel, der diesmal als Titelanwärter vermisst wurde, den Co-Sieg. Im Duell 2003 galt auf den offenen Linien, wer zuerst kommt, mal zuerst.
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Reich,J - Wildt,V [B45]
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Der Sieger von 1999, Bürgermeister Thomas Delling aus Hoyerswerda, musste seine Ambitionen in der fünften Runde begraben. Wie bereits 2001 stoppte Lomer seinen Vormarsch. Ob hier wohl ein Angstgegner-Syndrom vorliegt? In der Anfangsphase lief nach einem risikolosen Qualitätsgewinn eigentlich alles für Schwarz.
Thomas Delling kostete die Niederlage gegen Lomer den Kontakt zur Spitzengruppe. Foto: Harald Fietz
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Lomer,E - Delling,T [E04]
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Weniger abwechslungsreich verlief das Wettrennen unter den vier teilnehmenden Damen. Wie im Vorjahr stritt sich ein Trio von SPD-Politikerinnen aus dem Berliner Abgeordnetenhaus um die drei Preise. Allerdings hatte Dr. Felicitas Tesch diesmal mit drei Punkten deutlich die Nase vorne, derweil Ülker Radziwill und Renate Harant auf jeweils 1,5 Punkte kamen. Mit einem Punkt bilanzierte die amerikanische Diplomatentochter Anita Lochner.
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Rafajlovski,G - Apelt,A [D00]
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Die stärkere internationale Dimension zeigt, dass der Berliner Schachpräsident Alfred Seppelt bei der letzten Austragung unter seiner Ägide das richtige Gespür für die erweiterten politischen Beziehungsgeflechte hatte. Sein designierter Nachfolger als Verbandspräsident, Dr. Matthias Kribben von Zitadelle Spandau, wird ein funktionierendes, expandierendes Turnier übernehmen. Für die feste Positionierung des Ereignisses im schachlichen und politischen Kalender gebührt Seppelt als "Seele des Turniers" ausdrücklich Dank, betonte Schily unter dem anhaltenden Applaus der Teilnehmer.
Innenminister Otto Schily stellte nicht nur am Brett trickreiche Fallen, sondern würdigte hochprozentig geistreich die Leistungen des Berliner Organisators Alfred Seppelt. Foto: Harald Fietz
Ein Präsent - das er unumwunden
als Weitergabe eines Geschenks des rumänischen Innenministers zu erkennen
gab - wollte er zum Ausscheiden angekündigt (dabei hatte er es allerdings
nicht!): Ein gläsernes Spiel, bei dem die Figuren mit Hochprozentigem
gefüllt sind. Selbst bei dieser Auszeichnung zog der Bundesinnenminister
schalkreich das Schmunzeln auf seine Seite. Aber Entscheidungsträger
können als öffentliche Personen, die gerne mittels des Schachs
die Fähigkeit der Weit- und Umsicht demonstrieren, selten aus dem Korsett,
en passant eigene PR-Manager zu sein. Kann dem Schachsport aber überhaupt
etwas besser widerfahren, als dass die Menschen das Spiel neben der Erbauung
eben auch zum Zweck des gesellschaftlichen Status betreiben?
1. |
Ralf Seibicke |
LRH | Sachsen-Anhalt | 6,0 |
2. |
Volker Wildt |
UB | Gauting | 6,0 |
3. |
Dr. Jürgen Schwarz |
CDU | Sachsen | 6,0 |
4. |
Dietmar Lingemann |
Mitarb. | B90/Grünen | 5,5 |
5. |
Edmund Lomer |
CDU | Eckernförde | 5,5 |
6. |
Leo Tito Ausan |
Botschaft | Philippinen | 5,0 |
7. |
Wilfried Roos |
Bürgermeister | Saerbeck | 5,0 |
8. |
Wolfgang Betcke |
CDU | Berlin | 5,0 |
9. |
Dr. Fritz Felgentreu |
SPD | Berlin | 5,0 |
10. |
Matthias Berninger |
B90/Grüne | Berlin | 5,0 |
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(57 Teilnehmer, 7 Runden) |
(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 22 / 2003, S. 615 / 616)