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Besser mit Nerven gewinnen als lustvoll verlieren

Unabhängiger Volker Wildt kontrollierte mit seinem Hattrick prominente Parteipolitiker beim zwölften Berliner Traditionsturnier der Volksvertreter

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Januar 2003

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   Obwohl der Kurfürsten-Saal des "Hotel Berlin" am nasskalten 16. November 2002 aus allen Nähten platzte, waren fast alle zufrieden. 66 Politiker wollten ihre Fähigkeiten auf den 64 Feldern beweisen, oder wenigstens - wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse mit einem Augenzwinkern meinte - "lustvoll verlieren". Das Politikerturnier ist auf der politischen Schaubühne der Hauptstadt bereits eine feine Adresse. Stammgast Bundesinnenminister Otto Schily unterstrich die neue Wertigkeit noch vor dem ersten Zug. Erstmals waltete der Bundeskanzler als Schirmherr und sein Sportminister überreichte Alfred Seppelt, dem Präsidenten des Berliner Schachverbandes, einen Ehrenteller als Auszeichnung für verdienstvolle Organisationsarbeit. Treffliche Worte fand Gerhard Schröder in seiner Grußbotschaft: "Ich wünsche den teilnehmenden Politikern und Diplomaten viel Erfolg, vor allem gute Kondition, das erforderliche Maß an Konzentration und den einen oder anderen überraschenden Spielzug. Freuen würde mich, wenn das Schachturnier dazu beiträgt, für diese anspruchsvolle Sportart zu werben und neue Anhänger zu gewinnen." Die enorme Presseresonanz und gar eine kurze Berichterstattung im samstagabendlichen Heute-Journal sind Beweis, dass das königliche Spiel, einen gesellschaftlichen Wert als Wettstreit der wohlüberlegten Art genießt.

 

Dr. Wolfgang Schäuble

Dr. Wolfgang Schäuble

 

   Der Teilnehmerrekord bedeutete ein Steigerung um über 30 Prozent - da wurde mancher Neuling begrüßt. Der prominenteste Erststarter war ohne Zweifel Dr. Wolfgang Schäuble: An seinem Brett machten andere Größen aus Politik und Wirtschaft halt, hier robbten die Fotographen fast zwischen den Figuren. Der ehemalige Präsident des Bund der Deutschen Industrie, Dr. Hans-Olaf Henkel, und der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Dr. August Hanning, kamen ebenso vorbei wie die SPD-Größen. Gelassen flachste der seit einem Attentat im Rollstuhl sitzende, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag mit Kollegen jeder Couleur, antwortete geduldig in die Journalistenmikrophone und ließ alsbald den nachdenklichen Blick über die Stellungen gleiten. Gegen den früheren Koalitionspartner FDP, heuer repräsentiert durch den ehemaligen Staatssekretär im Justizministerium, Heinz Lanfermann, passierte allerdings ein Blackout.

 










Schäuble,W - Lanfermann,H [C00]
Berlin (Politikerturnier) (3) 2002

 

1.e4 e6 2.Sf3 d5 3.Sc3 c5 4.Lb5+ Sc6 5.d3 d4 6.Se5 Ld7 [ Einfacher ist 6...dxc3 7.Sxc6 Db6 ( Gleiches Spiel ergibt 7...bxc6 8.Lxc6+ Ld7 9.Lxa8 cxb2 10.Lxb2 Dxa8 11.0-0 ) 8.Sxa7+ Ld7 9.Lxd7+ Kxd7 10.bxc3 Txa7 und Weiß hat nur zwei Bauern für die Figur.] 7.Sxd7 Dxd7 8.Se2 Tc8 9.0-0 a6 10.La4 Ld6 11.Lf4 e5 12.Lg5 Dg4 13.Ld2 Sge7 14.h3 Dg6 15.Sg3 0-0 16.Lb3 Kh8 17.c3 f5 18.cxd4 Sxd4 19.Te1 f4 20.Se2 f3 21.Sxd4 [ Nach 21.Sg3 fxg2 22.Kxg2 Df6 23.Le3 Sg6 drückt Schwarz.] 21...Dxg2# 0-1

 

   Letztlich standen für Helmut Kohls ehemaligen Vertrauten vier Siege und drei Verluste zu Buch. Eine bemerkenswerte Leistung bei seinem ersten Wettbewerb mit Schachuhren. Es reichte mit Prof. Dr. Herwig Haase, dem ehemaligen Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, zu einem geteilten dritten Platz in der Sonderwertung "Amateur bis DWZ 1500". Ebenfalls vier Punkte, aber bessere Wertungen hatten in dieser Kategorie Henkel und der makedonische Botschafter Dr. Goran Rafajlovski.

 

Günter Nooke

Der kultur- und medienpolitische Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Günter Nooke

 

   Wie im letzten Jahr gab es Zeitvorgaben für die Hobbyspieler (z.B. acht gegen vierzehn Minuten). Doch auch bei den Vereinsspielern unterschied man in P1, die Spieler mit DWZ über 2100, und P2, die Spieler bis 2100. Da jedoch die Spielstärke der Ps (gleich Profis!) über regelmäßige Spielpraxis angeeignet wird, hatten wenig aktive, wertungsstarke Spieler Mühe, Zeitnachteile acht gegen zwölf Minuten wettzumachen. Insbesondere der Mainzer Oberbürgermeister Jens Beutel fand nicht zu seinem Spiel. Gegen den kultur- und medienpolitischen Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, Günter Nooke, reichte es zur Halbzeit, aber dann gelang nur noch ein Punkt, so dass Platz 16 mit 4,5 Punkten beim Sieger der Jahre 1997 und 1998 keine Begeisterung hervorrief.

 

Jens Beutel

Jens Beutel

 










Nooke,G - Beutel,J [C50]
Berlin (Politikerturnier) (4) 2002

 

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.Sc3 d6 5.h3 Sf6 6.0-0 Ld7 7.d3 De7 8.a3 a6 9.Sg5 0-0 10.Kh1 h6 Phänomenal - alle Randbauern haben bereits gezogen! 11.Sf3 b5 12.La2 Lb6 13.Sd5 Sxd5 14.Lxd5 Tad8 15.c4 Sd4 16.b4? [ 16.Lb7 bxc4 17.Lxa6 cxd3 18.Dxd3 Sxf3 19.Dxf3 f5 bringt Schwarz die Initiative.] 16...c6 17.cxb5 cxd5 18.bxa6 dxe4 19.dxe4 Lb5 20.Te1 Lxa6 21.Lb2 Sxf3 22.Dxf3 De6 23.Dg3 Lc4 24.f4 Ld4 25.f5 De7 26.Lxd4 exd4 27.Tac1 Tc8 28.e5 dxe5 29.Txe5 Dg5 30.Dxg5 hxg5 31.Tc5 Txc5 32.bxc5 Ld3 33.c6 Lxf5 34.Tc5 Le6 35.Txg5 d3 0-1

 

Hans-Jürgen Beerfeltz

Hans-Jürgen Beerfeltz

 

   Einen Platz davor platzierte sich Hans-Jürgen Beerfeltz, der Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfkoordinator der FDP. Dieses Wochenende galt für den früheren Spieler des Godesberger SK in seiner neuen Wahlheimat "Schach pur". Der Berliner Bundesliga-Runde stellte er das geräumige Thomas-Dehler-Haus in zentraler Lage nahe der Friedrichstraße in Berlin-Mitte zur Verfügung und gleich nach dem eigenen Wettstreit eilte er - wie auch Lanfermann - zum Kiebitzen bei den wahren Profis in die Parteizentrale.

   In der Partie gegen den brandenburgischen Landtagsabgeordneten Joachim Kolbe führte solides Spiel geradewegs in haarsträubende Kapriolen. Letztlich gab es ein Remis, denn der besserstehende Spieler konnte dies - so eine neue FIDE-Regel für Schnellschachfinale - beantragen, wenn er nur noch zwei Minuten auf der Uhr hat.

 










Kolbe,J - Beerfeltz,H [E80]
Berlin (Politikerturnier) (5) 2002

 

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.f3 c6 6.Le3 a5 7.Dd2 Sa6 8.Td1 0-0 9.Ld3 Sb4 10.Lb1 Ld7 11.Sge2 b5 12.c5 Dc7 13.0-0 dxc5 14.dxc5 Tad8 15.De1 Le6 16.Df2 a4 17.a3 Sa6 18.Sd4 Lc4 19.Tfe1 Sd7 20.Ld3?! Lxd3 21.Txd3 Sdxc5 22.Tdd1 Le5 23.f4 Lxd4 24.Lxd4 Sd7 25.Se2 c5 26.Le3 Sf6 27.Sg3 Sg4 28.De2 Sxe3 29.Dxe3 Txd1 30.Txd1 Td8 31.Txd8+ Dxd8 32.h4 Dd4 33.Kf2 Dxb2+ 34.Se2 e6 35.e5 b4 36.axb4 Sxb4 37.h5 Dc2 38.h6 a3 [ Einfach ging 38...Sd5 39.Df3 c4 ] 39.Df3 [ Ein tristes Endspiel gibt 39.Dxa3 Da2 40.Dxa2 Sxa2 41.Ke3 Sb4 und nur Schwarz hat Chancen.] 39...Sd3+ 40.Kg3 Da4 [ Nur Remis ergibt 40...Kf8 41.Da8+ Ke7 42.Db7+ aber Schwarz setzt auf den vorgerückten Bauer!] 41.Dxd3 Kf8 42.Dd6+ [ Besser war 42.Dd8+ De8 43.Da5 Dc6 44.Dxa3 ] 42...Ke8 43.Db8+ Kd7 44.Db7+ Kd8 45.Db6+ Kd7 46.Dd6+ Ke8 47.Dxc5 Db3+ 48.Kg4 f5+ 49.Kg5 [ Warum nicht schlagen und Matt drohen mit 49.exf6 Db7 50.Dxa3? ] 49...a2 50.Kf6?? [ Hier konnte schon ein Matt exekutiert werden 50.Dc8+ Ke7 51.Dc7+ Ke8 52.Kf6 ] 50...Db7 51.Da3 Df7+?? [ Nach dem Knalleffekt hätte Weiß das Matt nur noch hinausgezögert, daher vielleicht kurz und bündig: 51...a1D 52.Dxa1 De7# ] 52.Kg5 De7+ [ Noch ging das Motiv: 52...a1D ] 53.Dxe7+ Kxe7 54.Sd4 a1D 55.Sc6+ Kd7 56.Sb8+ Ke8 57.Kf6 Da7 58.Sc6 Dc7 59.Kg5 1/2-1/2

 

   Wie bei sieben Runden üblich, stellten erst die Schlussrunden die Weichen für die vorderen Plätze. Abseits von der Bundesprominenz kämpften die Lokalpolitiker ihre Duelle um den Titel aus. Zwischen die Amtsträger "mogelte" sich der erst kurz von Spielbeginn gemeldete Stefan Sondermann. Als Referent eines niedersächsischen CDU-Bundestagsabgeordneten aus Salzgitter schlüpfte er nicht nur ins Feld, sondern mit fünf gewonnenen Partien an die Spitze. In Runde sechs saß er dem doppelt so alten Dr. Georg Hamm, einem CDU-Stadtrat aus dem sächsisch-anhaltinischen Calbe, gegenüber. Dieser gab zuvor nur gegen Vorjahrssieger Volker Wildt ein Remis ab und befand sich ohnehin in guter Kondition, belegte er zwei Wochen zuvor bei der Seniorenweltmeisterschaft in Naumburg einen 85. Platz unter 255 Teilnehmern. Flott kamen seine Züge und bald setzte es einen Knalleffekt.

 

Dr. Georg Hamm

Dr. Georg Hamm

 










Sondermann,S - Hamm,G [E64]
Berlin (Politikerturnier) (6) 2002

 

1.g3 Sf6 2.Lg2 g6 3.c4 Lg7 4.Sc3 0-0 5.d4 c5 6.d5 d6 7.Sf3 Sa6 8.0-0 Sc7 9.a3 Tb8 10.Tb1 b5 11.cxb5 Sxb5 12.Sxb5 Txb5 13.b4?! [ Besser war 13.Sd2 , um die Dominanz auf den weißen Feldern zu verhindern.] 13...Lf5! 14.Da4 Db8 15.Tb3 Lc2 Mit einem deftigen "Ach Du Scheiße!" gab Weiß auf! 0-1

 

Volker Wildt

Volker Wildt

   Damit engte sich der Kreis möglicher Sieger ein, denn Wildt eroberte in der Vorschlussrunde aus einem remisverdächtigen Turmendspiel ebenfalls den ganzen Punkt gegen den Hoyerswerdaer Bürgermeister Thomas Delling, den Sieger von 1999. In der letzten Runde hatte es der Gewinner der beiden vergangenen Jahre mit einem Mitglied des Bundesvorstands der Senioren in der SPD, Ernst Werner aus Jena, zu tun, während Hamm auf Prof. Dr. Jens Reich traf. Der Mokularbiologe, der einst als Bürgerrechtler in der letzten Volkskammer vor der Vereinigung saß, hält sich heute bisweilen beim Berliner Betriebsschach fit. Gegen den verhaltenen Aufbau des sehr schnell ziehenden CDU-Manns erlangte er bald Bauernvorteil, spazierte allerdings grundlos in eine Fesselung, die die Qualität und die Partie kostete.

 










Hamm,G - Reich,J [A07]
Berlin (Politikerturnier) (7) 2002

 

1.Sf3 Sf6 2.g3 d5 3.Lg2 c6 4.0-0 Sbd7 5.d3 e5 6.Sbd2 Ld6 7.e4 0-0 8.Te1 Dc7 9.c3 Te8 10.Dc2 Sf8 11.Sf1 Le6 12.Lg5 S6d7 13.b3 h6 14.Ld2 Sc5 15.b4 Scd7 16.a3 Tad8 17.Tac1 Sf6 18.Se3 S8d7 19.Sh4 g6 20.exd5 cxd5 21.c4 d4 22.Sd5 Lxd5 23.cxd5 Dxc2 24.Txc2 Kg7 25.Lc1 Sb6 26.Lb2 Sbxd5 27.Lxd5 Sxd5 28.Sf3 f5 29.Tce2 Kf6 [ Nach 29...Sc3 30.Tc2 Sa4 31.La1 Kf6 hätte Schwarz mit dem Mehrbauer ohne Bedrängnis auf Gewinn spielen können.] 30.Sxd4 exd4 31.Txe8 Txe8 32.Txe8 Sc3 33.Kf1 Le5 34.f4 Lc7 35.Tc8 Lb6 36.Lxc3 dxc3 37.Txc3 Ke6 38.Ke2 Kd5 39.Tc8 Lg1 40.h3 Lb6 41.Tg8 Kd4 42.Kd2 a5 43.Txg6 Lc7 44.Txh6 1-0

 

   Jetzt musste auch der Vertreter der Unabhängige Wählervereinigung aus dem bayerischen Gauting gewinnen. Und erneut zeigte Volker Wildt Nervenstärke als seine stärkste Qualität in brenzligen Situationen auf dem Brett und der Uhr. Wenn es darauf ankommt, fand sich eine taktische Wendung; diesmal waren ein vorgerückter Bauer und Springergabeldrohungen Erfolgsgaranten. Der Verlierer Werner durfte sich mit dem Gewinn der Kategorie "Vereinsspieler bis DWZ 2100" trösten vor Reich und Hans-Jürgen Krause, einem Mitglied des Wolfener CDU-Vorstands. "Glück gehört irgendwie dazu", meinte der strahlende Gesamtsieger nach seinem Hattrick.

 

Otto Schily

Otto Schily

 

   64 Spieler überstanden alle Runden. Otto Schily zog mit einem Sieg aus drei Runden wegen anderer Termine von dannen, der CDU-Fraktionsfraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus Dr. Frank Steffelt hatte nach vier Niederlagen andere Verpflichtungen. Die Berliner SPD hielt dagegen durch und saß in voller Stärke zu Tisch, denn sie hatte was zu feiern. Alle drei teilnehmenden Damen kamen aus ihren Reihen: Dr. Felicitas Tesch und die sozialpolitische Sprecherin Ülker Raziwill erreichten je 1,5 Punkte und Renate Harant kam auf einen Zähler. Als die Turnierleitung wegen eines Rechenfehlers Frau Harant den goldenen Springer als Preis übergeben wollte, drängte diese die eigentliche Gewinnerin, Frau Tesch als Wertungsbeste, den verdienten Lohn abzuholen. Ein wenig Zieren und Ratlosigkeit unterbrach der Fraktionsvorsitzende Michael Müller, der dreimal voll punktete, mit einem wahrlich sozialdemokratischen Gedanken: "Nun holt schon den Pokal, Hauptsache der bleibt bei der SPD!" Das war fast wieder politischer Alltag, doch nächstes Jahr kommen alle bestimmt wieder, um - wie Wolfgang Thierse - die richtigen Strategien zu suchen. Dieser verlor nicht nur dreimal lustvoll, sondern heimste auch vier, sicher nicht so freudlose Siege ein!

 

Wolfgang Thierse

Wolfgang Thierse

 

 

Endstand

1.

Volker Wildt

UVG

6,5 34,5

2.

Dr. Georg Hamm

CDU

6,5 34,0

3.

Stefan Sondermann

CDU

6,0 33,0

4.

Lomer, Edmund

CDU

5,5 32,0

5.

Thomas Delling

SPD

5,5 29,5

6.

Ernst Werner

SPD

5,0 32,5

7.

Prof. Dr. Jens Reich

Bündnis90/Grüne

5,0 29,5

8.

Hans-Jürgen Krause

CDU

5,0 29,5

9.

Mike Huster

PDS

5,0 28,0

10.

Gerhard Meiwald

SPD

5,0 27,5

11.

Dr. August Hanning

Präsident des BND

5,0 27,5

12.

Martin Wünschmann

CDU

5,0 26,0

 

(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 22 / 2002)


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