Matt open endDas Cafe "en passant" lockt Berliner Schachszene und schachfreudige Hauptstadtbesucher; Yakov Meister verteidigt Berliner Meistertitelvon Harald Fietz, Juni 2004 |
"Ich sitz schon seit 'ner Stunde ziemlich dumm allein um einen Kneipentisch herum" sangen die Gebrüder Blattschuss in den 70er Jahren in ihrem Gassenhauer "Kreuzberger Nächte sind lang". Dies wird dem Schachfreund im Cafe "en passant" in der Schönhauser Allee Nr. 58 nicht passieren. Doch lang - bis zwei, drei Uhr nachts - sind die Abende auch hier. Eine wichtige Errungenschaft aus West-Berliner Zeiten wurde in die vereinte Bundeshauptstadt gerettet: Es gibt keine Polizeistunde, keinen Aufruf für die letzte Getränkerunde. Allerdings fehlte heimischen und durchreisenden Schachsüchtigen all zu lange ein gediegener Ort, um in geselliger Runde mit Speis' und Trank ihrem Hobby abseits von Vereinsabenden zu frönen.
Diese Bedarfslücke zu schließen wagten im April 2002 zwei Schachspieler, die bisher keine Erfahrung als Schankwirte besaßen. Der 36-jährige Sven Horn und der ein Jahr jüngere Mike Gerndt suchten sich mit der Einkaufstraße im Szenebezirk Prenzlauer Berg einen Ort, der als Schnittstelle zwischen der östlichen und westlichen Stadthälfte prädestiniert ist, nicht nur für die knapp 3000 organisierten Schachspieler der Hauptstadt attraktiv zu sein. Die Schönhauser Allee gleicht einem Schmelztiegel der in Berlin ansässigen über 180 Nationalitäten. Es ist viel los in der Umgebung: ein paar Schritte nach Westen werfen die Basketballer von Alba Berlin in der Max-Schmeling-Halle ihre Körbe, wenige Seitenstraßen nach Süden kehrte einstmals US-Präsident Bill Clinton zum Essen ein, um die Ecke nach Osten sammelte sich in der Wendezeit in der Gethsemane-Kirche die DDR-Bürgerbewegung und tummelt sich heute eine vitale Künstlerszene. Mit dem gleichnamigen Werk von Wladimir Kaminer erlangte die Straße, die städtebaulich durch die stählernen Hochbahnviadukte der U-Bahnlinie Richtung Pankow geprägt wird, einen literarischen Platz weit über Berlin hinaus. Deutsche, Russen, Polen, Türken, Vietnamesen und Abenteurer aller Herren Länder wuseln hier zwischen Geschäftstreiben, Alltagsbesorgungen und vergnüglichem Müßiggang. Von gewöhnlichen und skurrilen Begegnungen dringt wenig ins Innere des lichten, in mediterranen Gelb- und Orangetönen gehaltenen Cafes, obwohl die große Fensterfassade freie Sicht erwährt. Da drückt schon mal der eine oder andere Passant seine Nase platt, wenn an langen Tischreihen flinke Hände Figuren über die Bretter tanzen lassen.
Wenn die Damen fliegen - die Bundesligaspieler Rainer Polzin (links) und Robert Rabiega beim Blitzduell im lichtdurchfluteten Schachcafe. Foto: Harald Fietz
Es sind seriöse Blitzturniere, auf denen sich lokale Spitzenspieler und gewöhnliche Vereinsspieler treffen. "Wir sind kein Zockercafe," betonen die beiden Inhaber, die sich seit über zehn Jahren kennen. Neben dem normalen Cafebereich, für den Spielsätze und Uhren zu üblichen Öffnungszeiten ab 11 Uhr, ohne Entgelt ausleihbar sind, bieten die 210 Quadratmeter noch zwei kleinere Räume, wo an vier Abenden die Berliner Vereine von Empor Berlin, SV Berolina Mitte, SV Friedrichstadt und Queer-Springer ihr Domizil haben. Alle vier bis sechs Wochen schmücken neue Kunst- oder Fotoausstellungen die Wände des Treffs, der längst zum akzeptierten Ort für Funktionärssitzungen (z.B. Stammtisch der Berliner Vereinsvorsitzenden oder des Jugendausschusses) geworden ist. Aber in erster Linie geht es dem früheren Netzwerkadministrator Horn und dem gelernten Gas- und Wasser-Klempner Gerndt darum, das Cafe als Spielort zu etablieren. Alle Arten von Wettbewerben des offiziellen Berliner Schachbetriebs fanden bereits Aufnahme, wozu Horn auch seine Schiedsrichterqualifikation einbringt: Von Jugendklassen der U-12 bis U-16, Sonntagskämpfen in der Mannschaftsmeisterschaft bis zu Seniorenmeisterschaften (Gewinner 2004: Werner Reichenbach) u.v.m. Ein besonderer Höhepunkt wurde über Ostern 2004 die Endrunde der Berliner Einzelmeisterschaft. Hier sammelte sich, da Großmeister automatisch für die Deutsche Einzelmeisterschaft vorberechtigt sind, die erweiterte Spitze der hauptstädtischen Schachkünstler.
Unter den diesmal 20 Teilnehmern kam es zu reizvollen Duellen und auch einige "Unfälle" passierten, wie hier zunächst zwischen zwei Zweitbundesligaspielern. Der 29-jährige Benjamin Dauth von Rotation Berlin, seines Zeichens Webmaster für die Ergebnisse der Berliner Mannschaftsmeisterschaft, stellte dabei den 14-jährigen Ilja Brener, eines der größten Berliner Talente von SC Kreuzberg und Dritter der Deutschen U-14-Meisterschaft in 2003, mit einer seltenen Eröffnung früh vor schwieriges Terrain.
|
B. Dauth - I. Brener
|
In der sechsten Runde kam es zum vermeintlich richtungsweisenden Spitzenspiel zwischen dem Berliner Ur-Gestein Dirk Paulsen und dem seit zwei Jahren in Berlin beheimateten russisschen Spätaussiedler IM Yakov Meister, der im Februar beim Aeroflot-Open in Moskau seine zweite GM-Norm realisierte. Der 45-Jährige FM, der schon Anfang der 80er Jahre für Bochum, später für Lasker Steglitz in der Bundesliga um Punkte kämpfte und heute für König Tegel am Brett sitzt, eroberte mit dem Sieg die Tabellenführung, die er vor der Schussrunde mit einem halben Punkt behauptete.
|
D. Paulsen - Y. Meister
|
Doch Meister verzagte nicht, und hielt schon in der nächsten Runde gegen einen anderen Spieler von König Tegel Tuchfühlung zum Führenden. Dies sollte sich in der Schlussrunde auszahlen, als Paulsen ein Remis und einen Stichkampf verschmähte und später gegen den für den Lasker Steglitz-Wilmersdorf spielenden Polen Marcin Lukaszewski unterlag. Meister punktete auch in der achten und neunten Runde gegen IM Michael Richter (SK Zehlendorf) und Dauth voll und verteidigte letztlich verdient seinen Vorjahrestitel.
Yakov Meister behielt mit drei Siegen in den Schlussrunden die Nerven gut in Zaum und verteidigte den Berliner Meistertitel. Foto: Harald Fietz
|
Y. Meister - T. Sarbok
|
In den unteren Regionen beschäftigte sich das halbe Teilnehmerfeld zumeist damit, Entfernung zu einem der fünf Abstiegsplätze zu halten. In der vorletzten Runde wendete Cafe-Mitbesitzer Horn dieses Schicksal ab. Mit einer Elo-Zahl von 2096 stand der Oberliga-Spieler von Lasker Steglitz-Wilmersdorf nur auf Platz 19 der Setzliste (was immer noch deutlich mehr ist als bei seinem Kompagnon Gerndt, der erst jüngst in der fünften Mannschaft bei Empor Berlin mit dem Schach begann und dieser Tage eine Wertzahl von 882 DWZ erhielt). Gegen den Letzten der Meisterschaftsrangliste wurde es eine taktische Angelegenheit.
Cafe-Mitinhaber Sven Horn (vorne) mag es taktisch - gleich ob beim Blitz oder in Turnierpartien. Foto: Harald Fietz
|
S. Horn - O. Ritz
|
Im Abstiegskampf überraschte letztlich nur der Absturz des bundesligaerfahrenen FM Gerhard Lüders. An der Spitze drängten sich die üblichen Verdächtigen. Einzig der stete Kontakt von Kreuzbergs Zweitbundesligaspieler Ronny Gaerths bildete eine positive Ausnahme.
1. | IM Yakov Meister |
7,0 |
2. | FM Dirk Paulsen |
6,5 |
3. | FM Wilhelm Schlemmermeyer |
6,0 |
4. | FM Ulf von Herman |
5,5 |
5. | Marcin Lukaszewski |
5,5 |
6. | Ronny Gaerths |
5,0 |
7. | IM Michael Richter |
5,0 |
(20 Teilnehmer) |
Das "en passant" bietet also reichlich Gelegenheit, zu kiebitzen und selbst spielen. Gerade nach Berliner Bundesliga- und Oberligarunde sammeln sich hier die Cracks, um den Tag Revue passieren zu lassen. Sowohl Einheimische, aber auch auswärtige Besucher, können sich - wie schon anno 2003 - auf ein großes Blitzstelldichein in der Schönhauser Allee im Anschluss an das Lichtenberger-Sommer-Open (14. bis 22. August 2004) freuen. Für Berlin-Besucher (insbesondere Gruppen), die nicht unbedingt auf Sterne-Unterkunft festgelegt sind, empfiehlt sich das gegenüber gelegene Jugendhotel, mit welchem das Schachcafe bei Frühstück-Buffets regelmäßig Sonderarrangements vereinbart. Für alle gilt: Beim Schach schläft die Hauptstadt kaum noch.
Hinweise für Schachcafe-BesucherSchachcafe "en passant", Schönhauser Allee 58 (Ecke Gneiststr.) , 10437 Berlin (Nähe U-Bahnhof Eberswalder Str.), Tel. 030 / 443 577 42, Mobil (Sven Horn) 0177 / 738 38 99 oder Email Sven_Horn@freenet.de (für Anfragen zu Feiern oder geschlossenen Veranstaltungen sowie aktuellen Schachevents). Hinweise auf Veranstaltungen im "en passant" finden sich zudem auf der informativen Homepage des Landesverbandes unter www.berlinerschachverband.de "Alcatraz Backpacker Hostel", Schönhauser Allee 133a, 10437 Berlin, Tel. 030 / 48 49 68 15, Email: ok@alcatraz-backpacker.de oder unter www.alactraz-backpacker.de |
(erschien zuerst in Schachmagazin 64 , Nr. 9/ 2004, S. 244/245)