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Jubelschrei am Ende des Jahrhunderts

Dr. Michael Dreyer spürte Emanuel Laskers letzte Schachschrift auf

von Harald Fietz, Mai 2002

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   "Verweile doch, Du bist so schön!", ruft Goethes Faust in seinem Studienzimmer im Augenblick erfüllter Erkenntnis. Am 5. August 1999 erlebte Michael Dreyer eine vergleichbare Gefühlswallung, als ihn die E-Mail der Schachabteilung der Bibliothek im Cleveland erreichte. Das Unerwartete war geschehen. Ein Manuskript der als verschollen geltenden deutschen Fassung der Erzählung "Wie Wanja Meister wurde" von Emanuel Lasker schlummerte im amerikanischen Archiv. Es hatte eine weite Ost-West-Reise hinter sich.

 

Auszug aus dem Original-Manuskript von Emanuel Lasker, Quelle: Exzelsior-Verlag

 

   Eigentlich stellte sich der zweite Schachweltmeister nach dem Moskauer Turnier 1925 einen ruhigen Lebensabend vor und das Sommerhaus in Thyrow südlich von Berlin war als Ort der Besinnung hergerichtet. Doch bereits unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten begann der 64-Jährige mit einer Simultanvorstellung am 18. März 1933 in Paris eine erzwungene Wanderschaft durch Europa. Erst ab 1935 stellte die sowjetische Metropole einen festen Lebensmittelpunkt dar. Nach Zürich 1934 wurden Moskau 1935 und 1936 sowie Nottingham 1936 Endpunkte seiner großartigen Karriere. Dann trug er sich mit dem Gedanken, eine Sammlung seiner Partien zu verfassen. Doch die Idee gelangte nicht zur Realisierung, weil wegen kein Verlag mehr als 30 Partien veröffentlichen wollte. Lasker blieb dem Schach im Staat Stalins aber als Simultanreisender erhalten. Außerdem muss ihn seine Anerkennung als Mathematiker mit Befriedigung erfüllt haben. Er hatte als Mitglied der Akademie der Wissenschaften eine feste Anstellung, wenngleich über Umfang und Stellenwert der Beschäftigung in seiner Lieblingsdisziplin spekuliert wird.

   Für sein schachliches Vermächtnis dachte er sich - ein Dutzend Jahre nach seinem letzten Schachbuch, dem "Lehrbuch des Schachs" (1925), - eine Erzählung über die Rivalität zweier Jungen in seiner östlichen Wahlheimat aus. Die Begebenheit gliedert sich in zwei Phasen: Einerseits den Aufstieg zu Meisterehren, andererseits Schachreisen durch große Nationen. Der kürzlich beim Exzelsior Verlag erschiene Band (ISBN 3-935800-01-0, Preis 16 €) enthält zwar einige Partien, die - wie das sehr informative Nachwort des Herausgebers Dreyer belegt - keine eigenen Spiele sind; ansonsten handelt es sich bei dem autobiographisch konzipierten Traktat um ein Altersstatement, welches zwei zentrale Themen umfasst: Wie soll man seinen Schachstil herausbilden und welchen Stellenwert hat das königliche Spiel in verschiedenen Kulturkreisen.

   Wanja verlässt sich nicht auf Autoritäten, sondern wendet eigene Einfälle an. Rivale Fedja orientiert sich überwiegend an Buchwissen. Das hilft ihm, Methode und System für sein Schachverständnis zu entwickeln. Aber Laskers Held ist der wahre Schöpfer, weil er das "Ursprüngliche" sucht. Im Kreise der Meisterkandidaten findet Wanja sein Credo bestätigt: "Sie alle lernen aus der Praxis des Kampfes und verachten und verabscheuen Hirngespinste, wie sie oft genug als ‚Theorie' angepriesen sind. Sie hatten den Mut, das Ungewisse zu wagen, um es kennen zu lernen."

   Im Rang eines Champion erfährt er, welchen Status das Denkspiel in Frankreich, England und Amerika besitzt. Trotz Gastfreundschaft schlägt ihm Oberflächlichkeit und Kommerz entgegen. Die lokalen Meister leben zwar ein leidlich bequem-müßiges Tagwerk, taugen aber nicht zur absoluten Meisterschaft. Sein Resümee hätte auch jüngst von einem in der UdSSR geschulten Großmeister über die westlichen Kollegen stammen können: "Sie haben einen guten Stil. Es fehlt ihnen aber an Ausdauer." Das Wiedersehen mit den Landsleuten erfüllt seine Sehnsucht: "Es ist gut, zu leben und zu arbeiten mit diesen Menschen."

   Doch an eine Veröffentlichung im Schachboomland Sowjetunion war nicht zu denken. Laskers Wanja ist trotz allem Individualist und stimmt nicht ein in den Kanon sozialistischer Gesinnung und der damals auch in Schachbüchern üblichen Glorifizierung des Parteichefs Stalin. Erst 1973 erschien eine Übersetzung von Ilja Maiselis. Der 1894 geborene Schachbuchautor, der u.a. an den Endspielwerken von Juri Awerbach mitarbeitete, übertrug neben Laskers Schriften auch Nimzowitschs und Bergers Pionierwerke ins Russische. Lasker begegnete er während seiner Moskauer Exil-Station häufiger und wahrscheinlich auch in der Funktion als Mittelsmann zu Verlagen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass er einen Schreibmaschinendurchschlag für eine künftige Publikation behielt. Bei allen wohlwollenden professionellen Kontakten konnte aber ein wacher Zeitgeist wie Lasker nicht die Vorkommnisse der politischen Säuberungen ignorieren. Letztlich tauschte er die furchtsame, materiell-solide Basis gegen die finanziell ungewisse Lage in New York. Auf seiner Passage nach Amerika machte der Kosmopolit 1937 in den Niederlanden Zwischenstation. Seine Schwester Theophila, die 1943 mit über 80 Jahren von den Nazis nach Auschwitz deportiert wurde, behielt die getippten Seiten mit letzten handschriftlichen Korrekturen. Da sie vor ihrer Verschleppung bei dem niederländischen Schachmäzen Dr. Gerard Oskam Aufnahme fand, blieb das Manuskript in sicheren Händen. Allerdings hatte dieser selbst - aber mit glücklichem Ausgang - ein Konzentrationslager zu überstehen.

 

Dr. Michael Dreyer beim Lasker-Treff in Berlin im Februar 2002, Quelle: Andreas Saremba

 

   Dank weiterer Recherchen in Den Haag kam beim Lehrbeauftragte für politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Jahr 2000 zum zweiten Mal Jubel auf. Befand sich in Cleveland ein eher blasser, aber größtenteils lesbarer Durchschlag, besaß die Königlichen Bibliothek der Niederlande das Original. Unglaublich, aber der Schatz lagerte über ein halbes Jahrhundert in den beiden weltbekannten, öffentlichen zugänglichen Schachspezialsammlungen - nur keiner ist darauf gestoßen. Dreyer erwog zwischenzeitlich gar eine Rückübersetzung aus dem Russischen, was allerdings sprachliche "Verluste" eingeschlossen hätte. Nun sind die letzten Schachgedanken des kritisch-visionären Denkers gesichert. Nach Erreichen seiner letzten Exil-Station kreisten die Ideen des Flüchtlings vor allem um Formen menschlichen Zusammenlebens, wie der Aufsatz "Jude, wohin?" (1939) und das Buch "The Community of the Future" (1940) unterstreichen. Zudem wird gemutmaßt, dass er in dieser Lebensphase an einer Schrift gearbeitet haben soll, die seine vielen spieltheoretischen Ansätze aus früheren Untersuchungen in einer philosophischen Gesamtschau auf eine Metaebene transferiert. Leider gelang es bislang keinem Schachhistoriker, in Erfahrung zu bringen, wie weit das Projekt tatsächlich gediehen war. Das Auffinden eines solchen Manuskripts wäre laut Michael Dreyer die Sensation der Lasker-Forschung schlechthin. Ob er wohl bei Lasker jemals wieder so stark jubeln kann?


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