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Blinder Durchblick

Robert Hübner demonstrierte seine Extraklasse beim Blindschach

von Harald Fietz, Fotos aus Archiv Harald Fietz, April 2002

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   Den meisten Schachinteressierten fällt beim Thema Blindschach bestimmt zunächst die eine oder andere skurrile Geschichte ein, wie jene von dem Vater, der mit seinem Sohn ein Blindsimultan besuchte, und anschließend von diesem zu hören bekam, dass der Spieler gar nicht blind sei, denn er könne ja Autogramme geben. Immer noch erscheint das Blindspielen und besonders das Blindsimultan vielen als eine ganz eigene Sphäre des Schachsports, von der oft nur vage Vorstellungen - angereichert mit einem großen Fundus an Anekdoten - bestehen. Solche Darbietung versetzen das Publikum zumeist in Staunen. Dies galt auch am letzten Samstag im September 1999, als der SC Kreuzberg anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums zu einer höchst reizvollen Ansetzung geladen hatte: Robert Hübner, der erfolgreichste deutsche Spieler der Nachkriegszeit, stellte sich in einem Blindsimultan der ersten Mannschaft vom Zweitbundesligist SC Kreuzberg. An acht Brettern sah sich der Großmeister Spielern gegenüber, die einen Wertungsdurchschnitt von 2300 Elo-Punkten auf die Waage brachten.

   Nach den gemeinsamen GM- und IM-Turnieren mit König Tegel 1999 und den traditionellen Schnell- und Blitzschachturnieren der Kreuzberger Festtage bot die selten praktizierte Form des Schachwettkampfs einen weiteren Höhepunkt im Jubiläumssommer. Da es für die meisten Beteiligten wohl die erste Begegnung mit dem Blindschach war, gab es die unterschiedlichsten Prognosen über den möglichen Ausgang. Viele Berliner trauten den Lokalmatadoren zu, dass sie Paroli bieten und eventuell die Gesamtwertung zu ihren Gunsten entscheiden würden. Die eher skeptischen Naturen glaubten, ein überschaubares Simultan mit acht Gegnern sei eine abstrakte Konfrontation nach dem Geschmack des Akademikers, wobei letztlich seine enorme Spiel- und Analyseerfahrungen den Ausschlag geben würden.

 

Dr. Robert Hübner

Dr. Robert Hübner - beim Blindsimultan abweisend, aber bei der Lasker-Konferenz in Potsdam im Januar 2001 in öffentlicher Darbietung

 

   Austragungsort war das Debeka-Versicherungshaus in unmittelbarer Nähe zum Rathaus Schöneberg, dem Sitz der früheren Landesregierung von West-Berlin. Leider boten sich hier aber keine optimalen räumlichen Bedingungen: Die acht Kreuzberger saßen parterre in einem typisch steril-unwirtlichen Großraumbüro - getrennt durch eine Stellwand - in zwei Vierergruppen an gegenüberstehenden Bürotischen, während sich Robert Hübner zunächst in einem separaten Büro mutterseelenallein vor einer Karaffe mit einem selbstgemixten Erfrischungsgetränk und einigen Müsli-Riegeln platzierte. Anders als bei seiner Blindvorstellung an sechs Brettern im Jahre 1997 gegen den damaligen Zweitligaclub Kölner SF (5,5:0,5 für Hübner) war diesmal keine Notation der Züge gestattet - heuer quasi ein Dirigieren der Figuren ohne Partitur. Die Kommunikation sollte über eine Standleitung der hausinternen Telefonanlage geschehen. So startete kurz nach 14 Uhr das Match, in dem der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz an jedem Brett den weißen Zug ausführte. Als dem Großmeister dieser Übermittlungsmodus nach einer Viertelstunde nicht behagte, wurde der den Zuschauern zugängliche Raum mit den Kreuzberger Spielern gesperrt und Robert Hübner hielt sich nunmehr in Rufkontakt zu seinen Gegnern auf. Den verbannten Zuschauer blieb folglich nur der Analyseraum, d.h. die kleine Kantine im ersten Stock, wo acht Demonstrationsbretter aufgebaut waren, vor denen ca. 250 Zuschauer dicht gedrängt an kleinen Tischen oder stehend verweilten. Der Verpflegungspunkt war bereits geöffnet, so dass konditionellen Einbrüchen Vorsorge getragen wurde. Sarkastische Gemüter frotzelten sogleich, dass man ja fit bleiben müsse, um am nächsten Vormittag die Läufer des Berlin-Marathons begrüßen zu können, deren Strecke in der Nähe vorbeiführt.

   Als Warm-up initiierten die Mitveranstalter von der Zeitschrift "Schach", GM Raj Tischbierek und IM Dirk Poldauf, mit Unterstützung des amtierenden Berliner Meisters FM Ulf von Herman eine Fragerunde. Die große "Stunde der Kiebitze" begann: Prognosen, Diskussion der Eröffnungsoptionen, mögliche strategische Ausrichtung, gesundheitliche Bedenken, historische Reminiszenzen, mögliche Spieldauer, skurrile Halbwahrheiten - kurzum Basiswissen und Hintergründe jeglicher Art waren begehrt. Hier ging es augenscheinlich nicht nur um die Partien als solche, sondern um ein Hinterfragen, wie beide Seiten sich präpariert haben und wie sie ihre jeweiligen Spielgestaltungen umsetzen können.

   Um die herausragende Leistung Robert Hübners genauer einschätzen zu können, soll zunächst eine kurze Skizze der historischen Entwicklung des Blindsimultans angeboten werden.

   Versucht man Blindsimultanvorstellungen zu bewerten, ist es sinnvoll, Quantitäts- und Qualitätskriterien in unterschiedlichen Kontexten zu differenzieren. Die nachfolgende Tabelle einiger herausragender Veranstaltungen zeigt, dass es zwei Entwicklungslinien gibt. Einerseits die Jagd nach Rekorden durch eine immer größere Zahl gespielter Partien, andererseits die Höchstleistung durch die Auswahl starker Gegnerschaft oder durch zusätzliche Schwierigkeiten (z.B. Zeitlimit für den Simultanspieler). Seit dem Europa-Aufenthalt Paul Morphys 1858/59 und seinen legendären Auftritten in Birmingham und im Pariser Café de la Régence gab es zu allem Zeiten mehrere hervorragende Blindschachspieler. Versuchte Morphy noch gegen die stärksten Spieler der lokalen Schachszene anzutreten, weshalb er eine Begrenzung auf acht Partien für angemessen hielt, so war alsbald fast ausschließlich die Steigerung der Partienanzahl als Leistungskriterium akzeptiert. Dabei wurde notwendigerweise eine größere Zahl schwächerer Gegner zugelassen. Eine durchschnittliche Partienlänge von 25 Züge war keine Seltenheit und viele Partien endeten schon vor dem 20. Zug.

 

Jahr

Spieler

Ort

Partienanzahl

Ergebnis

1858

P. Morphy

Birmingham

8

6+/1=/1-

1858

P. Morphy

Paris

8

6+/2=

1862

L. Paulsen

London

11

6+/2=/3-

1876

J. Zukertort

London

16

12+/3=/1-

1902

H. Pillsbury

Hannover

21

3+/11=/7-

1902

H. Pillsbury

Moskau

22

17+/4=/1-

1919

R. Reti

Haarlem

24

12+/9=/3-

1921

G. Breyer

Kosice

25

15+/7=/3-

1924

A. Aljechin

New York

26

16+/5=/5-

1925

R. Reti

Sao Paulo

29

20+/7=/2-

1931

G. Koltanowski

Antwerpen

30

20+/10=

1933

A. Aljechin

Chicago

32

19+/9=/4-

1937

G. Koltanowski

Edinburgh

34

24+/10=

1940

M. Najdorf

Rosario de Santa Fe

40

36+/1=/3-

1947

M. Najdorf

Sao Paulo

45

39+/4=/1-

1960

J. Flesch

Budapest

52

31+/18=/3-

1979

V. Hort

München

20

9+/7=/4-

1980

V. Hort

Bremen(1)

10

5+/4=/1-

1987

V. Hort

Meran

20

9+/8=/3+

1985

G. Kasparow

Hamburg(2)

10

8+/2=

(1) gespielt gegen die 10 besten Spieler der SG Bremen
(2) gespielt mit Zeitkontrolle (1,5 Stunden für 40 Züge plus 30 Minuten für Übermittlung)

 

   Der Aufbruch zu einer stetigen Aufstockung der gespielten Partien kam langsam, nachdem Henry Nelson Pillsbury um die Jahrhundertwende die Szenerie dominierte. Sein frühes Ableben, zu dem auch eine überdurchschnittliche Blindsimultantätigkeit beigetragen haben soll, mag potenzielle Nachfolger zunächst abgeschreckt haben, aber der ungehemmte Fortschrittsglaube nach dem Aufbruch gesellschaftlicher Systeme infolge des ersten Weltkriegs hatte auch einen Bedarf für gesteigerte Gehirnakrobatik diesen Formats hervorgebracht. Der ideale Nährboden für Massenproduktion um, vergleichbar dem heutigen Stabhochsprung, in kollegialer Rivalität zwischen führenden Schachgrößen (Réti-Breyer später Réti-Aljechin dann Aljechin-Koltanowski) die Messlatte kontinuierlich höher zu legen. Nach dem zweiten Weltkrieg ebbte die Begeisterung merklich ab. Im Land der neuen Schach-Supermacht Sowjetunion waren Blindvorstellungen bereits in den 20er Jahren untersagt. Obwohl es später wahrscheinlich kein direktes Verbot gab, blieben diese verpönt - zumeist mit der Begründung auf mögliche gesundheitliche Schädigungen. Nur zweimal noch sollte der Ehrgeiz Einzelner es auf die Spitze treiben. Miguel Najdorf hatte bereits 1940 in seiner neuen Heimat Argentinien die Partienzahl auf 40 geschraubt, aber 1947 schien der Gipfel erreicht, als er 45 Gegnern in einer knapp 24-stündigen Sitzung gegenüber trat. Allerdings muss angemerkt werden, dass 34 Partien vor dem 30. Zug beendet waren. Sicher hat er diese spektakulären Vorstellungen aber in erster Linie auch dazu genutzt, zum Status seiner eigenen Legende beizutragen. Zweifelhafterer Natur ist der Rekord des Ungarn Janos Flesch, der in Budapest 1960 einen Durchgang mit 52 Teilnehmern in nur 12 Stunden beendet hatte. Dabei kapitulierten ca. 20 Gegner bereits in frühem Partiestadium zwischen Zug 10 und 15. Vlastimil Hort, der seit den 70er Jahren ein Vertreter des qualitativ orientierten Blindsimultans ist, meldet Bedenken an, und weist darauf hin, dass mit jedem Brett die Anstrengung in geometrischer Reihe wachse.

   Eine Ausnahme in der historischen Rückschau bildet allerdings das berühmte Blindsimultan von Pillsbury in Hannover im Jahre 1902, als er gegen das gesamte Teilnehmerfeld des Hauptturniers des 13. Kongress des Deutschen Schachbund antrat. An diesem dem aufstrebenden Nachwuchs vorbehaltenen Turnier nahmen u.a. starke Spielern wie O. Bernstein, W. John, B. Kagan, H. Fahrni teil, und die 21 Gegner setzten dem amerikanischen Meister gehörig zu, so dass drei Siegen sieben Niederlagen gegenüberstanden. Es blieb die einzige Blindproduktion, bei der Pillsbury mehr Partien verlor als gewann, und das bei 666 Partien auf 49 Veranstaltungen in gut fünf Jahren. Obwohl diese qualitativ gut besetzte Vorstellung in Hannover am ehesten einen Vergleich mit der Hübnerischen Leistung zulässt, sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache zu Gunsten der größeren Qualität und Intensität in der Gegenwart. Brauchte Pillsbury für 21 Partien zwölf Stunden Zeit, so waren es bei Hübner neun Stunden für acht Partien. Während die durchschnittliche Zugzahl 1902 bei 30 Zügen lag, waren es 1999 42 Züge. Insgesamt berechnete Pillsbury 629 Zugpaare, während Hübner 339 Zugpaare spielte. Zudem zeigt sich, dass am Beginn des Jahrhunderts eine völlig andere Spielkonzeption anzutreffen war. Alle Partien wurden von Pillsbury mit dem Königs- oder Damenbauern eröffnet, es gab keine Eröffnungen, die von einem Hauptsystem abwichen. Dagegen sah sich Hübner in der Hälfte seiner Partien mit seltenen Eröffnungen oder ungewöhnlichen Zügen in frühem Eröffnungsstadium konfrontiert. Generell ist eine exakte Vergleichbarkeit schwierig, aber die Fakten zeigen, dass mit dem allgemein gestiegenen Leistungsniveau im Schachsport eine Trendwende hin zu Simultangrößen zwischen 8 bis 20 Spielern vollzogen werden musste - allein schon um einer zeitlichen Ausuferung vorzubeugen.

   Wie gestalten sich unter diesen Bedingungen Spielabläufe aus Sicht der jeweiligen Parteien? Exweltmeister Michail Botwinnik behauptete in einem Interview mit dem SPIEGEL im Jahre 1981, dass selbst ein starker Spieler beim Blindspiel einen "kleineren Horizont" hat. Für ein überschaubaren Vergleich mit acht Brettern scheint dieses Argument, nicht per se anwendbar zu sein. Robert Hübner gliederte seine Aufgabe sofort gleichgewichtig in 1.e4-, 1.d4- und 1.c4-Eröffnungen auf. Partien mit ähnlichem Spielverlauf sind nämlich der größte Feind des Simultanspielers. Daher ist die Individualisierung der Partien die erste Priorität. Georg Marco, der Herausgeber der Wiener Schachzeitung, bringt nach der Wiener Blindsimultanvorstellung von Pillsbury im Herbst 1902 in einem Artikel für die "Neue Freie Presse" einen treffenden Vergleich, warum die Partie - sobald sie besondere Merkmale trägt - keine Hexerei darstellt, sondern vielmehr leichter handhabbar wird. In Analoge zum Auswendiglernen eines Satzes versinnbildlicht er: "Für uns genügt es, einen einzigen Blick auf die Zeile zu werfen und dann behalten wir alle Lettern, aus denen sie zusammengesetzt ist. Und wieso? Weil wir den Sinn der Worte verstehen und die Worte vor unseren Augen nicht bloß schwarze Figuren auf weißem Grund sind. Der innere Zusammenhang der Begriffe dient dann dazu, die Worte zu behalten."

   Sobald die Partie ein eigenes Gepräge besitzt, beginnt - vergleichbar dem normalen Schach - der Prozess, Eröffnungs- und Mittelspielmerkmale zu nutzen, um positionelle Vorteile zu erlangen. Allerdings muss der Blindspieler jetzt versuchen, insbesondere visuell-räumliche Wahrnehmungen zu imitieren. Diese Funktionsweise hängt speziell mit dem analogen, ganzheitlichen Erfassen von Situationen auf dem Brett zusammen. Das hierzu hilfreiche Verfahren des fotografischen Gedächtnisses beschrieb Tarrasch plastisch: "Ich stelle mir ein ziemlich kleines Brett vor. So kann ich das ganze Brett auf einen Blick sehen und mein geistiges Auge kann schnell von einem Feld zum anderen wechseln. Ich sehe die Felder nicht deutlich als schwarz oder weiß, sondern nur als dunkeler oder heller... Die Formen der Schachfiguren erscheinen mir sehr schwach. Ich betrachte die Figuren vielmehr als Träger bestimmter Handlungen." Die Partie wird so nicht bloß als "wechselvolles Schauspiel der Figurenbewegungen" (G. Marco) rekapituliert, sondern ein ganzes Set von Ideen mit Vorgehensoptionen und Zwischen- bzw. Endzielen. Die Kunst des Blindspielers besteht darin, dieses Set immer wieder neu zu entfalten, und die Partie folgerichtig ins nächste Stadium zu treiben. Dem erfahrenden Profispieler steht dabei natürlich ein reichhaltigerer Bestand an Schachmustern zur Verfügung, der von ihm stellungsgerecht verwaltet werden muss. Robert Hübner selbst formulierte dies einmal wie folgt: "Es ist höchst wichtig, dass Konstellationen korrekt erfasst und strukturiert werden: es darf nichts Wesentliches fehlen, sie dürfen aber auch keine überflüssigen Elemente enthalten. Die mit ihnen verknüpften Bewertungen müssen richtig, die ihnen zugewiesenen Abläufe sinnvoll sein." (zitiert in Munzert, 1998: S.191). 

   Einfache Weisheiten, die im Falle des 6,5:1,5 Ergebnis vom Großmeister eindruckvoll umgesetzt wurden. Zu keinem Zeitpunkt der Veranstaltung konnte für ein Kreuzberger Brett ein Vorteil konstatiert werden. Auch die ausgefalleneren Eröffnungen brachten den Weißspieler nicht in Schieflage. Vielmehr gelang es Hübner, die ungewöhnlichen Züge (3....Se4 in der Partie gegen Glienke, 3....a6 in der Partie von Schilow und 4...Dc7 in der Partie gegen Bachmann, 1...a6 in der Partie gegen Federau) zu nutzen, in günstigen Stellungen zu münden. Während die Spiele von Wladimir Schilow und Jürgen Federau im Mittelspiel wieder einigermaßen ins Lot kamen, drifteten die Spiel von Manfred Glienke und Andreas Bachmann auf den Verlust hin. Insbesondere die Stellung des ehemaligen Deutschen Meisters von 1982 hatte Chefkommentator Raj Tischbierek schon nach dem zweiten Zug auf dem "Kieker". Ein um das andere Mal merkte er trocken an: "Glienke bastelt weiter an seinem Untergang." Trotz einer subtilen taktischen Falle gegen Ende der Partie war dieses Urteil korrekt. Die komplexen Stellungen von Bachmann und Federau entknäulte Hübner durch den kraftvollen Einsatz seines Läuferpaars, nur gegen Schilow hatte er Fortune, als dieser die Stellung in einen Doppelturmendspiel überzog.

 

Blindsimultan gegen Dr. Hübner

Die elostärksten Kreuzberger Wladimir Schilow (2369) (links) und Manfred Glienke (2389) mit dem Bezirksbürgermeister in Aktion

  

Zu den online nachspielbaren Partien Hübner - Glienke, Hübner - Schilow, Hübner - Bachmann, Hübner - Federau

   Auch die vier anderen Partien brachten keine Verlustgefahr für den Simultanspieler. Vielmehr mussten die Berliner Spieler mit vollem Einsatz um die Unentschieden kämpfen: Lutz Mattick hatte das starke Läuferpaar zu entschärfen, Rainer Albrecht konnte - angesichts der offenen h-Linie - erst nach Tausch der Damen aufatmen. Nur Thomas Schian gelang es nicht, seinen deplatzierten Turm von a7 ins Spiel zurückzubringen. Einzig in der Partie gegen den Vorsitzenden des SC Kreuzberg, Norbert Sprotte, kam Hübner ein Bauer abhanden, was jedoch durch ausreichend Gegenspiel kompensiert wurde. Nur Thomas Schian gelang es nicht, seinen deplatzierten Turm von a7 ins Spiel zurückzubringen.

 

Blindsimultan gegen Dr. Hübner

Der Kreuzberger „Unterbau“ mit Rainer Albrecht (links) und Norbert Sprotte. Den Zug ausführenden Bezirksbürgermeister Franz Schulz und dahinter stehend der Spielleiter Harald Sielaff und Schiedsrichter Ernst Bönsch

 

Zu den online nachspielbaren Partien Hübner - Mattick, Hübner - Albrecht, Hübner - Schian, Hübner - Sprotte

   Die Partie Partie gegen Sprotte wurde folgerichtig als erste - allerdings erst kurz von 22 Uhr - beendet. Acht Stunden für 34 Züge unterstreichen, wie genau Robert Hübner die Phase des Übergangs von der Eröffnung ins Mittelspiel unter die Lupe genommen hatte. Zwischen 18 und 19 Uhr war man erst um den 15. Zug angekommen und das Zugtempo des Großmeisters hatte sich merklich verlangsamt. Unter den Kiebitzen machten vermehrt Sprüche die Runde, wie "Plötzlich passiert hier gar nichts!" oder "Sicher wird der Nachtwächter die Partien um Mitternacht beenden." Aus Kreuzberger Sicht hätte allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits das alte Karl Valentin Motto ausgegeben werden können: "Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es ist!" Das es dann doch recht heftig kam, lag u.a. daran, dass die Turmendspiele von Schilow und Schian wegbrachen. In einem furiosen Finale kulminierten alle Partien innerhalb einer Stunde und gegen 23 Uhr stellte sich ein sichtlich aufgeräumter Großmeister dem ausharrenden Publikum und spulte einige komplexe Varianten herunter. Natürlich blieb auch die Fragen aller Fragen nicht aus: "Herr Hübner, erwarten Sie keine gesundheitlichen Schäden?" Jetzt präsentierte sich der Großmeister schon wieder mit gewohnt bissig-trockener Schlagfertigkeit: "Wir werden es ja sehen."

  

Blindsimultan gegen Dr. Hübner

Die Kreuzberger Andreas Bachmann (links) und Thomas Schian

 

   Für dieses Mal bleibt zu resümieren, dass die Veranstalter ein bemerkenswertes Spektakel auf die Beine gestellt haben, so dass die insgesamt weit über 400 Zuschauer den Nichtdagewesenen mehr als nur schrullige Anekdoten erzählen können. Glücklicherweise hat sich Anfang des Jahrhunderts nicht die negative Stimmung gegenüber dem Blindsimultan durchgesetzt, als der praktizierende Arzt Dr. Siegbert Tarrasch 1906 im Berliner Lokalanzeiger - rückblickend auf das Leben von Pillsbury - schrieb, dass man in Nürnberg die Abhaltung eines Blindsimultan verweigerte, "da wir uns nicht zu Mitschuldigen an einem solchen Verbrechen machen wollten." So wird man in nächster Zeit auf Postämtern sicher keine Fahndungsplakate mit den Gesichtern der Kreuzberger Spieler antreffen!

 

Literatur

 

Bachmann, Ludwig, Schachmeister Pillsbury, Edition Olms, Zürich, [1930] 1982.

Berger, Johann / Marco, Georg / Schlechter, Carl u.a., Der zwölfte und dreizehnte Kongress des Deutschen Schachbundes München 1900 und Hannover 1902, Edition Olms, Zürich, [1901] [1902] 1983.

Harenberg, Werner, (Hg.), Schachweltmeister. Berichte, Gespräche, Partien, SPIEGEL-Buch, Hamburg 1981.

Hort, Vlasti, Begegnungen am Schachbrett. So spielen Profis, Rau Verlag, Düsseldorf 1984.

Litmanaowicz, Wladyslaw / Gizycki, Jerzy, Szachy od A do Z, Sport i Turystyka, Warschau 1986, 1987.

Marco, Georg, Wiener Schachzeitung 5.Jg., Edition Olms, Zürich 1982.

Maroczy, Geza, Paul Morphy, Edition Olms, Zürich [1909] 1979.

Munzert, Reinhard, Schachpsychologie, 3. Aufl., Beyer Verlag, Hollfeld 1998.

Steinkohl, Ludwig, Phänomen Blindschach, Edition Mädler, Rau Verlag, Düsseldorf 1992.

van Riemsdijk, Herman, Najdorf's legendary blindfold simul, New in Chess Magzine No.1 1998.


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