Der Tal aus KuppenheimErinnerung an einen Trainingsabend mit Paul Motwanivon Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, März 2002 |
Spontane Entscheidungen bringen oft die besten Ergebnisse. Nachdem der schottische Großmeister Paul A. Motwani zwischen 1990 und 1992 Wanderjahre einlegte, um seinen Großmeistertitel zu erlangen, drängte es ihn im Sommer 1993 danach, auch mal eine Reise zur Entspannung zu machen. Gesagt, getan: Nachdem wir, d. h. Paul, Jonathan Grant, meine damalige Freundin Renate und ich, zusammen mit weiteren Schach-Aficionados während der Berliner-Sommer-Open 1990 und 1991 die Bretttorturen mit langen Nächten - nicht nur in Kreuzberg - "milderten", entstand die Idee, einmal das sonnige Mittelbaden als Treffpunkt zu vereinbaren. Eine Pension in Gaggenau-Seelbach, wo meine Schwester Astrid und ihr Freund Roland wohnten, war schnell gefunden; ein Brett auf der Terrasse bei meinen Eltern in Gaggenau-Rotenfels stand auch jederzeit bereit. Nachdem die beiden Schotten ihre Jacken bei Rekordtemperaturen von bis zu 37 Grad schnell in den Schrank packten, folgten zahlreiche Ausflüge und natürlich lockere Analysenachmittage. Eine Exkursion zum letzten Baden-Badener Open im Anbau des alten Bahnhof endete zusammen mit Stuart Conquest bei Spare Ribs und Bier; ein Trip in den Karlsruher Zoo mit einer denkwürdigen Partie am Freiluftschach.
In solch' entspannter Stimmung verwundert es nicht, dass Paul, der kurz zuvor den Co-Sieg bei der schottischen Meisterschaft errungen hatte, spontan auf die Bitte einging, im Alten Kindergarten in Kuppenheim einen Trainingsabend zu geben. Hartmut Metz war von der Offerte ebenfalls angetan und aktivierte während der Sommerflaute im Vereinsleben mit einer kurzen Zeitungsnotiz reichlich Zuhörerschaft. Es wurde eine denkwürdige Einführung in Eröffnungsideen und Tipps zu psychologischen Herangebensweisen an das königliche Spiel, die manchem Schachfreund Gedankenstoff für das eigene Spiel vermittelte. Insbesondere Alexander Hatz hatte an diesem Abend einen speziellen Fokus für das kombinatorische Element. Die Angriffsvarianten in der ersten Partie fand er allesamt richtig. Paul, seit 1992 wieder in seinem Beruf als Mathematik und Religionslehrer tätig, versteht es immer geschickt, bei seinen Vorführungen Frage- und Antwortsituationen einzubauen. Seine Zensur für unseren heutigen Vorsitzenden lautete: "1 plus - das ist der Tal aus Kuppenheim"!" Nach zwei intensiven Stunden vor dem Demonstrationsbrett folgte in der Kuppenheim-typischen, familiären Atmosphäre der Ausklang des Abends beim Italiener.
Paul Motwani in einer typischen Situation als Schachinstruktor (Edinburgh 1994)
Was im August 1993 von den Rochade-Clubkollegen mit "exzellent" bewertet wurde, setzte der gebürtige Glasgower einige Jahre später in seinen inzwischen fünf Schachbüchern fort. Die Vielfalt des königlichen Spiels kann unterhaltsam dargeboten werden, ohne dass der analytische Tiefgang verloren geht. Wichtig ist es, den Kontext einer Partie zu erfassen und sich an entscheidenden Stellen auf eine objektive Reflektion einzulassen. Das Wort gehört nun dem Schachlehrer, der keine Mühe scheute, seine Analysen danach auf Papier zu bringen:
Zwei Schotten in Kuppenheim: Paul A. Motwani (links) und Jonathan Grant (rechts), in der Mitte Harald Fietz
"Jeder Schachspieler kennt die Situation, dass ihn in einer bestimmten Partie - etwa einem wichtigen Mannschaftskampf oder einer vorentscheidenden Partie in einem Turnier - nur der volle Punkt interessiert. Nicht selten sind solche Begegnungen dann durch einen Spielverlauf gekennzeichnet, der als Angriffsschach' definiert werden kann.
Ich möchte drei Begegnungen vorstellen, bei denen ich in den vergangenen Monaten mit eben einer solchen Ausgangssituation konfrontiert war. Die Wahl von halboffenen Eröffnungssystemen ist in dieser Lage nicht überraschend, denn für gewöhnlich können hier beide Seiten mittels bestimmter Zugfolgen versuchen, den Gang der Ereignisse dem individuell bevorzugten Spielstil anzupassen.
Ich werde zu erläutern versuchen, wie durch die Wahl solcher Eröffnungsvarianten typische Angriffsstellungen erreicht werden können beziehungsweise welche Möglichkeiten des Gegners man in Betracht ziehen muss, damit die eigenen Pläne nicht durchkreuzt werden. Anhand der Skandinavischen Verteidigung und der Paulsen-Variante in der Sizilianischen Partie sollen Entwicklungen in beiden Eröffnungen aufgezeigt werden.
Das erste Beispiel stammt aus der schottischen Meisterschaft von 1993, die in St. Andrews stattfand. Es handelte sich um ein besonderes Turnier, denn der nationale Kongress wurde zum hundertsten Male abgehalten und alle Spitzenspieler Schottlands nahmen teil. Der Austragungsmodus war neun Runden nach Schweizer System und die nachfolgende Partie gegen Douglas Bryson, einen bekannten Fernschachgroßmeister, der bei dieser Meisterschaft seine letzte IM-Norm im Nahschach erfüllte, wurde in der zweiten Runde gespielt.
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Motwani,P (2520) - Bryson,D (2320) [B01]
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Nun sollen zwei Partien zur sizilianischen Pauslen-Variante betrachtet werden. Sie eignet sich in besonderer Weise, Abspiele entsprechend der jeweiligen Turnieranforderung zu wählen.
Das Zusammentreffen mit FM Stephan Mannion wurde in der vorentscheidenden achten Runde des Jubiläumskongresses der schottischen Meisterschaft gespielt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mit 4,5 Punkten einen ganzen Punkt Rückstand auf GM Colin McNab, meinen Mannschaftskollegen aus Dundee. Ihm gelang in dieser Runde allerdings nur ein Remis nach 73 Zügen gegen Douglas Bryson. Die Ausgangssituation veranlasste mich, etwas Riskantes zu wagen, so dass ich im fünften Zug auf ein relativ zweischneidiges Abspiel zurückgriff.
Stephan Mannion: 1993 noch gegen Motwani unterlegen kurze Zeit später bereits IM
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Mannion,S (2390) - Motwani,P (2520) [B42]
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Ich möchte zu dieser Partie noch erwähnen, dass der positive psychologische Effekt so groß war, dass ich die Schlussrunde ebenfalls gewann, und letztlich zusammen mit Colin McNab die Meisterschaft errang.
Abschließend zeige ich eine Partie, die indirekt für die Wahl der Variante der eben analysierten Begegnung verantwortlich war. Sie wurde im Mai 1993 per Telefonübertragung in der britischen Mannschaftsmeisterschaft gespielt. Dieser Wettbewerb wurde bislang - im Gegensatz zur deutschen Bundesliga - nach einem K.o.-System mit Sechsermannschaften ausgetragen (inzwischen gibt es auch auf der Insel eine nationale Liga, die sogenannten 4-Nation-League, Anm. Figo) Mein Gegner Michael Adams dürfte auch hierzulande kein Unbekannter sein.
Michael Adams - schon vor knapp einem Jahrzehnt ein Spieler mit enormem Potenzial
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Adams,M (2630) - Motwani,P (2520) [B42]
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Ich hoffe, die gezeigten Beispiele verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich in "seinen Eröffnungen" kontinuierlich nach Feinheiten und Neuerungen umzusehen (ein wichtiger Merksatz, wie man am aktuell eingefügten Abspiel aus dem Finale der Deutschen Mannschaftspokalmeisterschaft 2002 ersehen kann - Anm. Figo). Gerade die letzte Partie unterstreicht, wie man mit guter Vorbereitung den Spielverlauf entscheidend zu seinen Gunsten gestalten kann. Danke für die Aufmerksamkeit und viel Spaß bei der nächsten Angriffspartie."