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Was derzeit im Leben zählt

Jugendweltmeisterin Elisabeth Pähtz wird volljährig und pendelt erfolgreich zwischen Schach und Schule

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Februar 2003

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   Es ist ein ruhiger Dezembernachmittag am Sportgymnasium Dresden. Einige Schüler bolzen trotz des nasskalten Wetters; in wenigen erleuchteten Klassenzimmern recken sich Finger in die Höhe. Neben dem Haupteingang kopiert IM Miroslav Shvartz, der sächsische Landestrainer, Unterrichtspläne. An der Pinwand gegenüber hängen ausführliche Zeitungsartikel über den jüngsten Triumph seiner Schülerin Elisabeth Pähtz. Zehn Tage nach ihrem glänzenden WM-Sieg in der U-18-Kategorie unter der Sonne Kretas gilt für die gebürtige Erfurterin wieder das Regime des grauen Schulalltags. Allerlei öffentliche Verpflichtungen füllen zudem den Terminkalender. Mit ihrem Manager Dr. Dirk Jordan, dem Präsidenten des Dresdner Schachfestivals e.V., hat sie gerade die Jahresplanung für ihr Schachjahr 2003 abgeschlossen. Man zog sich in die acht Quadratmeter kleine Bibliothek im ersten Stock zurück. Hier findet seit der Hochwasserkatastrophe Mitte August 2002 der Schachunterricht an bis zu vier Brettern statt, denn die gewohnte Infrastruktur des Schachkabinetts mit Computer und Bücher wurde im Kellergeschoss ein Opfer der Wassermassen.

 

Das Team Pähtz

Ohne Team gibt es kaum weltmeisterlichen Erfolg im Individualsport Schach: (von links) Dr. Dirk Jordan, der Manager, GM Thomas Pähtz, der Vater, und IM Miroslav Shvartz, der Schachlehrer, Foto: Harald Fietz

 

Erfolgsleiter 2002

   Damals wohnte Eli, wie sie von fast allen in ihrem Umfeld genannt wird, noch in einem der beiden Hochhäuser neben dem Gymnasium. Aus dem Schulinternat kämpfte sich die zierliche Frauengroßmeisterin damals - bis zum Bauch im Wasser - durch die Wohngegend mit ihren Fünfgeschossern, um den zehn Fußminuten entfernten Hauptbahnhof Dresden zu erreichen. Ihre Odyssee mit Umwegen über Polen und Berlin zu den Chess Classic Mainz und das 4:4 im Schnellschachmatch gegen Vize-Weltmeisterin Alexandra Kostenjuk fanden bundesweites Medieninteresse. Die erste Männer-IM-Norm beim Dresdner ZMD-Open im Juli 2002 markierte zuvor einen neuen Meilenstein ihrer bereits zehnjährigen Wettkampfkarriere, taugte allerdings nur für die lokale Presse. Nach einem Fiasko im Großmeisterturnier in Rostock Ende August, wo ihr mit zwei Punkten aus drei Partien ein guter Start und dann nur ein halber Punkt in sechs Partien gelang, legte sie eine siebenwöchige Pause ein, um im November mit neuem Schwung die Olympiade und die Jugendweltmeisterschaft anzugehen. Diese bedeutenden Championate zehrten zwar an den Kräften, brachten aber Erfolge über dem Soll. Die Olympiade in Bled verlief mit einem Plus-zwei-Ergebnis aus zwölf Partien solide, und insbesondere der Sieg gegen Erzrivalin Kostenjuk war unter zwei Gesichtspunkten bemerkenswert.

 

Grazien-Duell

Am Brett und abseits davon geht es zwischen den Grazien von Mainz mit Ellbogen zur Sache, Foto: Harald Fietz

 

   Einerseits zeigte sich, dass sie gegen Spielerinnen des Kalibers oberhalb Elo 2450 mithalten kann, andererseits stärkte die Wirkung der besseren Vorbereitung das Selbstvertrauen. Gerade gegen die mit ihren Modellauftritten ins Scheinwerferlicht drängende Moskauerin resümiert ein kleiner Seitenhieb Genugtuung: "Den Rauser kann man besser spielen. Wahrscheinlich war sie zu faul, sich etwas Vernünftiges anzuschauen." Was wäre Rivalität ohne Nickeligkeiten, solange Wortgefechte nicht den Sport in den Hintergrund drängen. Auch bei modischen Accessoires bot die Deutsche Paroli und packte wieder ihre "Russenkappe" aus, einen Lederhut in Form einer Jockeymütze, den sie im Sommer 2002 bei ihrem ersten Amerikabesuch in New York kaufte und der schon bei den Chess Classic Mainz die Blicke zum Verdruss der publicitygewohnten Russin anzog. Und beim Eröffnungsterrain folgte man ebenfalls den Pfaden des Schnellschachvergleichs.

 










E. Pähtz - A. Kostenjuk [B66]
Bled (Olympiade) 2002

 

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 d6 6.Lg5 e6 7.Dd2 a6 8.0-0-0 h6 9.Le3 Ld7 10.f3 b5 11.Sxc6 Lxc6 12.Kb1 Dc7 13.Se2 Lb7 14.h4 Tc8 [ Beide Spieler loten vertraute Abspiele aus: 14...Sd7 15.Sf4 ( 15.Sd4 d5 16.Ld3 e5 17.exd5 exd4 18.Lxd4 0-0-0 19.c4 Sc5 20.cxb5 Kb8 21.bxa6 Lxd5 22.Dc3 Sxd3 23.Dxc7+ Kxc7 24.Txd3 und Weiß hatte nicht genug Kompensation in Ni Hua - Kostenjuk, Shanghai 2001) 15...Se5 16.Le2 Sc4 17.Lxc4 Dxc4 18.g4 Le7 19.g5 hxg5 20.hxg5 0-0-0 21.Txh8 Txh8 22.g6 e5 23.b3 Dc7 24.Sd5 Lxd5 25.Dxd5 fxg6 26.Da8+ Db8 27.Dc6+ Dc7 28.Dxa6+ Db7 29.Da5 Kd7 30.Td5 Tb8 31.Db4 Ke6 32.f4 Da6 33.a4 Dc6 34.axb5 Dc7 35.Dc4 Dxc4 36.bxc4 Tc8 37.b6 und Elisabeth gewann in der zweiten Blitzpartie des Tie-Breaks bei den Chess Classic Mainz.] 15.Tc1 Die Vorbereitung des Team Pähtz. 15...Sd7 16.Sf4 Se5 17.Le2 g6 18.Thd1 Ke7 19.c4 bxc4 20.Lxc4 Db8 21.Lb3 Lg7 22.Se2 a5 23.Ld4 a4 24.Lxa4 La6 25.f4! Wie in der Blitzpartie helfen nur offene Linien, um den König zu bedrängen. 25...Sc4 26.Txc4 Txc4 27.Lxg7 Tg8 28.Lb3 Txg7 29.Lxc4 Lxc4 30.Sc3 Tg8 31.Dd4 Tc8 32.g4 Dc7 33.Tc1 Dc5 34.Dxc5 Txc5 35.b4 Tc8 36.Kb2 Kd7 37.Sa4 1-0

 

   Solche Siege hievten die 17-Jährige in der U-18, der höchsten Mädchen-Kategorie der Jugendweltmeisterschaft, im griechischen Heraklion in den Kreis der Titelanwärterinnen. Zwischendurch ging es zwar für einige Tage nach Deutschland, doch dort stand mit einem Showvergleich gegen Garry Kasparow im Blitzschach (vier gegen sechs Minuten im Bronstein-Modus) ein Zwischenstopp in München auf dem Programm. Schließlich besteht eine Pflicht gegenüber dem Sponsor ZMD, der Chipfabrik aus Elbflorenz.

   Die WM wurde zum Erfolg, weil sie die physisch Stärkste unter den nach der Olympiade Ausgepowerten war. Während des Nationenwettbewerbs joggte sie erstmals konsequent an Spieltagen um den Bleder See und in der steinigen Vegetation der Mittelmeerinsel scheuchte ihr Vater sie regelmäßig. Vorrangig kümmerte sich Thomas Pähtz aber um die eröffnungstheoretische und mentale Vorbereitung. Ab Runde sieben übermannt ihn - mehr als seine Tochter - die Nervosität und er fieberte lieber außerhalb des Turniersaals mit. Schachlehrer Shvartz bürdete sich - neben seinen Dresdner Schützlingen Evgenija Shmirina, Elena Winkelmann und Falko Bindrich - in entscheidenden Phasen auf, auch die aussichtsreichste deutsche Spielerin im Auge zu behalten. Als Absolvent im Studiengang Sport mit der Spezialdisziplin Schach an der Universität Kiew ist er der geeignete Mann, einen wichtigen, objektiven "Außenblick" einzubringen. Ebenso stand Bernd Vökler, der Elisabeth schon seit dem sechsten Lebensjahr Schach zeigte, am Frühstückstisch mit Ratschlägen zur Seite. Für alle galt es insbesondere, die richtige Balance zwischen "faulen" Nebenvarianten, wie Elisabeth die Basis ihres Konzepts lässig charakterisiert, und soliden Eröffnungssystemen zu finden. Nachdem sie ihre später stärkste Konkurrentin Tamari Tsereteli bereits zu Turniermitte besiegte, hielt sie auch Mitfavoritin Marie Sebag aus Frankreich in Schach. Die entscheidende Gewinnserie mit vier vollen Punkten wurde in der zehnten Runde durch einen Sieg gegen die Chinesin Zhao Xue gekrönt, die zuvor bei der Olympiade mit 10 aus 11 groß auftrumpfte und im Dezember 2002 im indischen Goa U-20-Weltmeisterin wurde. Die Erfolgsfaktoren von Kreta hören sich rückblickend ungewöhnlich an: "Ich habe schnell gespielt, weil ich oft ziemlich müde war. Ich wollte keine Komplikationen heraufbeschwören, und auch der Übergang ins Endspiel war mir recht. Und am Ende war ich einfach körperlich fitter." Ihr Vater nennt das Eingebundensein in einen geregelten Tagesablauf und die stete Betreuung als Bausteine zum Sieg. Doch hinterher beichtete ihm die Siegerin, dass sie auch mal zum Discobesuch ausbüchste und die Handy-Rechnung nahm im Turnierverlauf eine steile Kurve nach oben - wobei ihr neuer, norwegischer Freund Leif Erlend Johannessen (von Bundesligisten SV Wattenscheid), der in Bled zum Großmeister ernannt wurde, oft genug Gesprächspartner war.

 

Schachfamilie Pähtz: Eli und Vater Thomas

Elisabeth Pähtz und Vater Thomas voller Zufriedenheit nach dem WM-Erfolg vor den Sonnenuntergang auf Kreta, Foto: Thomas Pähtz

 

   Allerdings ist dies ebenso vergeben, wie die durchwachsenen Turniere in der ersten Jahreshälfte. Während der Mittelfeldplatz im Januar in einem Kategorie-VIII-Turnier auf den Bermudas wegen der exotischen Faszination des Austragungsorts in lebhafter Erinnerung bleibt, wurde im März die vorletzte Position bei einem Kategorie-VII-Turnier in Wroxham und im Mai der enttäuschende 58. Platz bei der Frauen-EM in Warna mit mangelhaft bewertet. Die Wertungszahl sackte von Elo 2383 auf 2331.

 

Schach in der Schule statt Schulschach

 

   Solche krassen Ausrutscher wird es in der Schule in ihren Leistungskursen Schach und Englisch nicht geben, denn dies sind - neben Musik - ihre Paradefächer. Das Dresdner Sportgymnasium ist seit dem Schuljahr 2002/03 die einzige Lehranstalt in Deutschland, wo man mit Schach sein Abitur bauen kann. Zudem bildet es seit 1. April 2002 das einzige Bundesleistungszentrum im Schachsport. Elisabeth Pähtz besucht die Schule seit 25. Februar 2002. Von der achten Klasse bis zum Halbjahr der elften Klasse lernte sie am Sportgymnasium Erfurt. Nachdem absehbar war, dass das sächsische Kultusministerium die Individualsportart Schach in der Sekundarstufe II genehmigt, stellte der Wechsel nach Dresden einen natürlichen Weg dar, zumal sie bereits für das Dresdener Frauenbundesligateam am Spitzenbrett spielt. Schach ist jetzt im Schulleben keine fakultative Beschäftigung in den Nachmittagsstunden, sondern vollwertiger Unterricht am Vormittag. Die Gleichstellung mit Sportarten wie Volleyball, Schwimmen oder Leichtathletik bedeutet, dass acht Schulstunden pro Woche besucht werden. Diese bestehen aus Einzel- und Gruppenunterricht. Hierfür ist Shvartz, der als Spätaussiedler Ende der neunziger Jahre nach Deutschland kam, seit August 2000 neben seiner Funktion für den Schachverband Sachsen zuständig. Im Fach Schach werden in Frühjahr 2005 folgende Themen geprüft: Eröffnung (halboffene und geschlossene Eröffnungen), Taktik (Beseitigung von Verteidigungsfiguren, Räumung von Feldern, Überlastung von Figuren, Zerstörung der Bauernstellung, Remiskombinationen), Strategie (Bauernstrukturen, Qualitätsopfer, Läuferpaar) und Endspiele (Springerendspiele und komplizierte Endspiele mit mehreren Figuren).

   Das sind sicher keine schwierigen Aufgaben für eine Titelträgerin, aber viel wichtiger ist, dass der Lehrplan Spitzenkadern ermöglicht, Schach und Schule in leistungsmäßigen und zeitlichen Einklang zu bringen. Es gibt die Möglichkeit, einen "gestreckten" Abiturabschluss abzulegen. Hierzu wird der zweijährige Lern- und Prüfungsstoff auf drei Jahre gelegt, so dass ausreichend Phasen für Turniervorbereitung und -teilnahmen bleiben. Statt 32 besucht sie 24 Wochenstunden. Die Hälfte der vier Abiturprüfungen findet bereits im vorletzten Schuljahr statt. Zuerst stehen Mathematik und Englisch an. Die Fremdsprache fällt ihr leicht und Shakespeare-Zitate wirft sie nach Bedarf in Gesprächsrunden. Mit den Mathenoten ist noch "etwas faul im Staate Sachsen", aber ihr Tutor Falk Sempert unterrichtet dieses Fach. Als Mitorganisator von Dresdner Schachveranstaltungen und 1. Vorsitzender der Nachwuchsförderung Schach e.V. weiß er, wo didaktische Schnittstellen notwendig sind: "Insbesondere für Elisabeth bemühe ich mich, die schulischen Aufgaben so zu planen, dass die Erlangung guter Leistungen im Abitur trotz mehrwöchiger Trainings- und Wettkampfreisen gesichert werden kann. Allein diese Aufgabe umfasst beispielweise die Ermöglichung einer Schulzeitstreckung, die Anpassung von Klausurplänen an Elis Wettkampfplan und ebenso das individuelle Vor- bzw. Nacharbeiten von Unterrichtsthemen." Ausgeglichen wird die derzeit einstellige Punktezahl in Mathe auch durch Schach und Geschichte/Gesellschaftswissenschaft, welches die finalen Prüfungen sein werden. Die Naturwissenschaften sind nicht ihr Ding; Physik ist bereits abgewählt, Chemie wird durchgeschleppt und Biologie fließt wohl in die Abiturnoten ein. Dafür glänzt sie in anderen Fächern. In Deutsch interpretiert man gerade Goethes "Faust" und Musik fiel ihr schon immer leicht. Gesang und Klavier bewältigt sie locker, um 13 oder 14 Punkte zu schaffen. Über die Weihnachtstage gab es mit dem Schlusssatz "Rondo alla turca" aus Mozarts A-Dur Sonate KV 331 ein Übungsstück zum eigenen Vergnügen. Sonstige Musikvorlieben wie russische Rockmusik, Disco-Oldies von Boney M. oder Dschingis Khan und aktueller Rock von Hot Chilli Peppers interessieren im Musikunterricht kaum. Auch ihre Kinohelden Tom Hanks, Harrison Ford, Johnny Depp, Julia Roberts und Sylvester Stallone (wegen Rocky!) bleiben nur Teil der knappen Freizeit.

 

Trainer, Training, Tränen

 

   Seit Elisabeth mit fünf Jahren die Schachregeln lernte, sind die 64 Felder ihre Welt. Anfangs hielt Mutter Anne, die einmal Kreismeisterin war, noch mit, aber ab dem siebten Lebensjahr musste der Vater und andere Verwandte ran. In großen Datenbanken findet man ihre Tante Hannelore und ihren Onkel Wolfgang als Teil des schachspielenden Pähtz-Clans. Und der zwei Jahre ältere Bruder Thomas jr. durchschritt ebenfalls eine erfolgreiche Jugendkarriere.

   Im Erfurter Umfeld standen Bernd Völker regelmäßig und Thomas Luther zwischen 1998 und 2000 Thomas Luther mit Tipps und Unterricht zur Seite. Richtig intensiv wurde es ab dem elften Lebensjahr, als sie ein Testtraining bei Artur Jussupow absolvierte. Der ehemalige Nationalspieler erinnert sich an das Jahr 1996: "Wir haben ungefähr eine Woche trainiert, um ihre Stärken und Schwächen besser zu verstehen. Sie hat verschiedene Aufgaben bekommen, so um die 100 Fragen. Im Allgemeinen war Elisabeth gut in der Eröffnung und Taktik, nicht so gut im Endspiel, dem positionellen Spiel und präziser Variantenberechnung." Eine solche Standortbestimmung nützt, um Fähigkeiten zu entwickeln und zu erweitern. Bei Eröffnungssystemen leisten der für den Dresdner SC spielende lettische Großmeister Zigurds Lanka und Christopher Lutz regelmäßige Unterstützung. Insbesondere bei der in Mode gekommenen Paulsen-Variante schaute sie von den beiden Experten viel ab und ist voller Begeisterung, ob dieser "flexiblen" Waffe: "Es gibt keine Theorie, die richtig forciert ist. Dadurch hat man den Vorteil, dass der Gegner sich nicht hundertprozentig vorbreiten kann." Geblieben ist jedoch ein Faible für trickreiche Varianten und Seitenpfade: "Bei der WM habe ich fast nur Nebenvarianten gespielt." Die Pirc-Verteidigung hat sie vom Vater "geerbt". Die Komplexität mit Zugumstellungen passt, um variabel auf Seitenpfaden zu agieren.

   Sie weiß, dass erfahrende Spielern wie Lutz und Jussupow enorm viel - gerade an einfachen Dingen im Schach - vermitteln. Zwei- bis dreimal im Jahr trifft man sich eine Woche, um ungefähr sechs Stunden täglich am Stil zu feilen. Zu tun gibt es immer was: "Meine Technik ist wesentlich besser geworden. Doch das Berechnen von Varianten ist ein Bereich, wo ich noch stärker werden kann." Aber ein Motto gilt immer: "Ich lasse mir nichts gefallen, wenn ich angreife." Dieses optimistische Prinzip wird auch Alt-Meister Wolfgang Uhlmann gefallen, bei dem sie in Dresden wöchentlich zwei Stunden Einzeltraining als Teil des Schullehrplans absolviert. Wie steinig der Weg ist, belegt eine von der Fachpresse wenig beachtete Partie der Chess Classic 2002. Gerade die spontanen Aussagen des versierten Jugendinstruktors Jussupow als Live-Kommentator in der Rheingoldhalle zeigen, wo Möglichkeiten zur besseren Umsetzung des Potenzials zu orten sind.

 










E. Pähtz - A. Kostenjuk [B54]
Mainz (Duell der Grazien) 2002

 

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.f3 e5 6.Sb3 d5 7.Lg5 d4 [ 7...Le6 8.Lxf6 gxf6 9.exd5 Dxd5 10.Dxd5 Lxd5 11.Sc3 Le6 12.0-0-0 Sd7 13.Sd5 0-0-0 14.Lb5 Lh6+ verschaffte der Nachziehenden in der 7. Matchpartie mit gleichen Farben Ausgleich.] 8.c3 Sc6 9.Lb5 Le6 10.cxd4 Lxb3 [ Nach 10...Lb4+ 11.Sc3 Lxb3 12.Dxb3 Dxd4 13.Td1 Lxc3+ 14.bxc3 Db6 15.Td5 0-0 16.Lxf6 gxf6 17.Ke2 steht Weiß etwas aktiver.] 11.Dxb3 Dxd4 12.Le3 Db4+ 13.Sc3 Dxb3 14.axb3 a6 Co-Kommentator Eric Lobron meinte: "Ulf Andersson würde liebend gerne diese Stellung spielen." 15.Sd5! Tc8 16.Sb6 Tc7 17.La4 Lb4+ 18.Kf2 0-0 19.Tac1 "Wieder eine Fesselung. Elisabeth spielt sehr außergewöhnlich", begeistert sich Jussupow. 19...Td8 20.Tc2 h6 21.Thc1 Td6 22.g4 Td3 23.Ke2 Td6 Droht mit 24...Sd4 zu entfesseln. Beide Spielerinnen hatten noch knapp acht Minuten Restbedenkzeit. 24.Lxc6 bxc6 Im Remissinne war das Nehmen mit dem Turm besser. 25.Tc4 a5 26.T1c2 g5 27.Lc5 Lxc5 28.Txc5 Te6 29.Sc4 Sd7 30.Txa5 Tb7 31.Tc3 h5 32.h3 hxg4 33.hxg4 f6 34.Ta8+ Die Großmeister bilanzieren: "Technisch steht Elisabeth auf Gewinn. Einfach Td3, den König nach c3 und b4." 34...Kg7 35.Sa5 Der Kommentator Jussupow ist von seiner Schülerin angetan: "Wir denken manchmal zu statisch, aber sie spielt sehr konkret, sehr dynamisch." 35...Tc7 36.Ta6 Sb8 37.Tb6 Te8 [ Erdrückend ist ebenso 37...Tc8 38.b4 ] 38.Sxc6 Sd7 39.Ta6 Th8 40.Ta7 Txa7 41.Sxa7 Sf8 Ein praktischer Gedanke, im Trüben zu fischen. Der Springer träumt vom Feld d4. 42.Tc7+ Kg6 43.Tc6 Th2+ 44.Kd3 Txb2 45.Kc4 Kf7 46.Tc7+ Der Trainer Jussupow wird nervös. "Man muss einfach 'fest' spielen und konsolidieren." Der Vormarsch des Bauern war die richtige Devise. 46...Ke6 Obwohl bei jedem Zug zehn Sekunden Bonus hinzukommen, ist die Situation mit einer Minute für Weiß gegen über drei Minuten für Schwarz ein Faktor. 47.Kb4 Sd7 48.Tc6+ Kf7 49.Sc8 Tf2 50.Sd6+ Ke7 51.Sf5+ Kd8 52.Tc3 Sf8 53.Kb5 Se6 54.Kb6 Td2 55.b4 Sd4 56.Ta3 Stellt die Falle, die die nachfolgende Vereinfachung erzwingt. "Elisabeth kann jetzt die Partie lesen. Sie hat ein Gespür, was die Gegnerin spielen wird. Das ist ein großer Vorteil im Zweikampf", meint der matcherfahrende Jussupow. 56...Tb2 57.Sxd4 exd4 58.Kc5 Td2 59.Kc4 Kc7 60.Td3 Tc2+ 61.Kxd4 Kd6 62.Ta3 Katzenjammer setzt ein: "Warum spielt Elisabeth immer so kompliziert? Das ist technisch nicht sauber!" [ 62.Tb3 ] 62...Tb2 63.Ta6+ Ke7 64.Kc4 Tc2+ 65.Kd3 Tb2 66.Tb6 Der Trainer reagiert zunehmend unwirsch: "Das ist nicht richtig nach Dr. Tarrasch. Der Turm hätte im 62. Zug hinter den Bauern gehört." 66...Tb3+ 67.Ke2 Kf7 68.b5 Kg6 Kostenjuk verliert die Übersicht, wird aber zweimal nicht bestraft! 69.Tb8 [ Forciert ist 69.e5 Kg7 70.Tb7+ Kg6 71.e6 !] 69...Kg7 70.b6 Kf7 71.b7 Kg7 72.Kd2 Tb6 73.Kc3 Tb1 74.Kc4 Tb2 75.Kd5 Td2+ 76.Ke6 Tb2 77.Te8 [ Ganz einfach macht 77.Td8 Txb7 78.Td7+ den Sack zu!] 77...Tb6+ 78.Kf5 Txb7 79.e5 fxe5 80.Txe5 Tf7+ 81.Kxg5 Txf3 82.Te7+ Kf8 83.Ta7 Tc3? [ Nach Mark Dworetzskij in seiner Kolumne auf www.chesscafe.com hält 83...Tg3! einfach remis, aber auch der Königszug nach g8 taugt, da der Turm nach f8 ziehen will.] 84.Kh5?? [ Hier gibt der Endspielguru 84.Kg6 Tc6+ 85.Kh7 Tc5 86.Tg7 an, was zur Lucena-Gewinnstellung führt.] 84...Kg8 Jetzt ist die Lage anders, denn man kann gegen den g-Bauern auch passiv verteidigen. 85.Td7 Tc6 86.Kg5 Tb6 87.Kf5 Tc6 88.Te7 Tb6 89.g5 Ta6 90.Kg4 Ta4+ 91.Kh5 Ta6 92.Tc7 Tb6 93.g6 Tb1 94.Kh6 Th1+ 95.Kg5 Tg1+ 96.Kf6 Tf1+ 97.Ke7 Kg7 1/2-1/2

 

   Anschließend flog die nächste Matchpartie fast widerstandslos weg, aber die Tränen nach diesen Frustmomenten trockneten schnell und einem schnörkellosen Sieg in der letzten Matchpartie folgte ein Freudensprung von der Bühne.

 

Die Schach-Grazien

Vor dem Mainzer Schnellschachduell 2002 ein seltenes Bild zweier entspannter Grazien, Foto: Harald Fietz

 

   Moralisch fühlte sie sich als Siegerin, und das war einiges wert, um in Bled und Heraklion in kritischen Situationen nach der neuen, verkürzten FIDE-Bedenkzeit zu bestehen. Zum Jahresende 2002 resümierte Artur Jussupow: "Sie muss noch viel lernen, aber sie ist auf guten Wege. Sie hat einen attraktiven und aggressiven Spielstil, muss sich aber weiter zur kompletten Spielerin entwickeln."

 

Rampenlichter

 

   Am 8. Januar 2003 wurde sie 18 Jahre alt und setzt ihre Schachaktivität nun fast ausschließlich im Frauenbereich fort - falls keine U-20-WM mehr ansteht. Zurückblicken kann sie am Tag der Volljährigkeit auf eine Karriere mit zunehmender Konstanz. Trotz Querelen mit Funktionären des DSB und der deutschen Schachjugend fügt sich ein Puzzle mit zahlreichen internationalen Jugenderfolgen zusammen: Bronze in der U-14 bei der Schnellschach-EM 1994, Silber in der U-10 sowohl bei der EM und der WM 1995, Bronze bei in der U-12 bei der WM 1996, Bronze in der U-12 bei der WM 1997, Achte in der U-18 bei der WM 1998, Vierte in der U-14 sowohl bei der EM und der WM in 1999, Vierte in der U-20 bei der WM 2000. Auch in Frauenturnieren häuften sich ab dem 13. Lebensjahr vorzeigbare Leistungen: 1998 Qualifikation zur Frauen-WM und erste Olympiadeteilnahme, 1999 Deutsche Frauenmeisterin und Teilnahme an der Mannschafts-EM, 2000 die zweite Olympiade, 2001 Neunte bei der Frauen-EM, Vierte mit der Mannschaft bei der EM und Achtelfinale bei der Frauen-WM. In Juni 2001 erhielt sie nach vier Normerfüllungen den Frauengroßmeistertitel. Sie betont, dass Teamspiel ihr ebenso Freude bereitet und sie schon mit neun Jahren bei ihrer ersten Bundesligamannschaft, dem SV Stade, spürte, welche zusätzliche Verantwortung man trägt. "Anfangs gab es auch die Angst zu enttäuschen", erinnert sich Elisabeth. Doch war es immer mehr Lust als Last und nach einer zweijährigen Zwischenstation in Gera ist Dresden nun ihr ideales Team. Zusammen mit ihrer Freundin, der 18-jährigen Jurastudentin Tina Mietzner, mit der sie Ende 2002 eine gemeinsame 55-Quadartmeter-Zweizimmerwohnung im Dresdner Stadtteil Striesen bezog, kämpft sie einem passenden Mannschaftsumfeld.

   Für Außenstehende vermittelt sich ihr Auftreten inzwischen souveräner. Selbstbewusst mit kesser Lippe war es schon immer, aber was früher bisweilen steif und platt rüberkam (z.B. plumpe, auswendig gelernte Ossi-Wessi-Witze in der Harald Schmidt Show 1999), wirkt heute flott mit einem reflektierten Schuss Nachdenklichkeit. Öffentliche Präsenz - gerade vor Publikum und Moderatoren, die nur Grundkenntnisse der Spielregeln haben - absolviert sie nun gelassener. Eigentlich kann das deutsche Schach froh sein, dass sich positives Medieninteresse auf ihre Person kapriziert. Eine Randsportart muss mit ihren wenigen kommunikationsfreudigen Spielern wuchern. Am 8. Februar 2003 steht sie zur besten Sendezeit, um 20.15 Uhr, in der ARD in Jörg Pilawas TV-Show "Rekordfieber" erneut im Rampenlicht. Die Wette wird etwas mit Mattaufgaben zu tun haben.

 

Eli Pähtz konzentriert

Aufgaben müssen konzentriert angegangen werden, Foto: Harald Fietz

 

   Der Ernst gilt jedoch hauptsächlich dem Turnierprogramm für 2003. Natürlich sind da die heimischen Events, der Dresdner Porzellan-Cup Anfang Januar, wo sie einen sehr guten zweiten Platz hinter Juniorenweltmeister Levon Aronjan belegte, und das ZMD-Open im Juli. Im Februar gibt es die Qual der Wahl mit dem Finale des Europäischen Grand Prix in St. Vincent oder dem Aeroflot-Open in Moskau. Pflicht ist die Frauen-EM im April in Antalya und die Frauenmannschafts-EM im Oktober in Plovdiv. Ein Wiedersehen mit Fräulein Kostenjuk findet wahrscheinlich bei den Chess Classic Mainz im August statt.

   Inzwischen beachtet man ihren Namen auch international, wie sie anhand einer Begegnung bei der Olympiade merkte. Als sich der Sieg der russischen Herrenmannschaft abzeichnete, lief ihr Alexander Chalifman in Feierstimmung über den Weg. Seit seiner Frankfurter Zeit Anfang der 90er Jahre spricht er recht gut Deutsch und erkundigte sich nach ihrem Resultat im Team. Erstaunt, dass sich der ehemalige FIDE-Champion überhaupt dafür interessiert und um eine pfiffige Antwort zu geben, verfiel sie, die bis zur zehnten Klasse Russisch hatte, spontan in einen Tonfall mit slawischem Akzent. Da entgegnete Chalifman nüchtern: "So spricht man nicht mit einem Weltmeister." Die Situationskomik entspannte sich jedoch und zwei Wochen später wäre es ja ein Gespräch unter Standeskollegen gewesen - wenngleich in anderen Gewichtsklassen.

   Derzeit orientiert sich neben Schule und Freund alles auf den schachlichen Fortschritt. Berufsperspektiven sind noch vage. Stewardess war ein Traum, aber mit 1,60 Meter Körpergröße klappt das nicht. Was "mit Menschen" soll es schon sein. Offenheit und Provokation liegen in ihrem Alter noch eng zusammen. Als sie im Juni 2001 eine Wette gegen eine Mitschülerin verlor, musste sie die Haare kurz schneiden. Doch sie machte eine positive Sache daraus: Designerschnitt in Mainz, rot-blonde Färbung zur Olympiade und Schwarz zur Jugend-WM. Solch ein Charakterkopf kommt an. Das Land Thüringen plant mit Lothar Späth und ihr eine Imagekampagne unter dem Slogan "Willkommen in der Denkfabrik!" Vielleicht gelingen auch im Frauenbereich bald Schacherfolge am Fließband. Das neue Jahr begann schon gut, die Elo-Zahl kletterte auf 2384!

 

(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 1 / 2003, S. 14 - 17)


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