Mehr als blond und lächelnd"Miss Europameisterschaft" schrammte knapp am Frauengroßmeisterinnentitel vorbeivon Harald Fietz, Mai 2004 |
Bisweilen langweilen sich Journalisten bei internationalen Sportgroßveranstaltungen. Dann ersinnen sie seltsame Ideen und führen interne Schönheitswettbewerbe durch. In der Leichtathletik "errang" z.B. die Weitspringerin Susan Tiedtke anlässlich der WM 1991 in Tokio die Auszeichnung zur schönsten Sportlerin. Auch bei der Frauen-EM in Dresden tauchte solcher Ruhm auf: ein Journalist schaute sich "seine" Schöne aus, bat einige Offizielle um Kopfnicken und fertig war die Kür. Wie bei Tiedtke gaben die Kriterien "blond" und "hübsch lächelnd" den Ausschlag. Doch eigentlich kam die Weißrussin Anna Sharewitsch, um ihre nächste sportliche Ambition zu schaffen - den Frauengroßmeisterinnentitel in einem Rutsch.
Schach und Moden der Anna Sharewitsch: Schwarz sehen. Foto: Harald Fietz
Dabei begann es für die 18-Jährige mit einer Niederlage in einem Endspiel mit Mehrqualität gegen Ex-Europameisterin Natalia Zhukova durchwachsen, steigerte sich auf 6,5 Punkte nach elf Runden und endete - unter Gewinnen-müssen-Druck - mit einer Weißniederlage gegen die routinierte Ukrainerin Olga Alexandrova. Gegen Spielerinnen mit um die 200 Wertungspunkte mehr standen am Ende vier Niederlagen, aber alle bis Elo 2350 lagen für die "2236-erin" in Reichweite. Der Vorschlussrundensieg gegen Tea Bosboom-Lanchava, die Niederländerin georgischer Herkunft, verdeutlicht dies.
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Bosboom-Lanchava,T (2323) - Sharewitsch,A (2236) [D35]
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Obwohl letztlich bei ihrer zweiten Frauen-EM nach dem türkischen Silivri 2003, wo sie die Hälfe der Punkte und ihre dritte Frauen-IM-Norm erreichte, der große Wurf nicht gelang, zeigte sich in der polnisch-weißrussischen Grenzstadt Brest Geborene nicht enttäuscht: "Ich werte es als Erfolg, denn ich habe mir die Chance erspielt." Schließlich ist es erst zwei Jahre her, dass die Zweit-Semester-Studentin für Sportwissenschaften und Tourismus am pädagogischen Fachbereich der staatlichen Hochschule Brest überhaupt in Damenkonkurrenzen startet. Zuvor heimste sie reichlich nationale Jugendtitel ein (alle Mädchenkategorien von U-10, U-14, U-16 bis U-20). Ihr beste Platzierung auf internationalem Parkett kam bei der EM 1999 im griechischen Litohoro in der U-14: Siegerin wurde die heutige französische Top-Spielerin Marie Sebag, während Sharewitsch punktgleich mit Elisabeth Pähtz - einen Rang hinter der Deutschen - auf Platz fünf einkam. Im Gedächtnis bleibt jedoch ein früher Trip: "Der interessanteste Ort, an dem ich mit elf Jahren ein Jugendturnier bestritt, war ohne Zweifel Disneyland bei Paris. Wenn ich nochmals die Chance hätte, würde ich ohne Zögern hinfahren." Damals wie heute trainiert sie der Vater, der ihr das königliche Spiel mit fünf Jahren beibrachte. Im Hauptberuf ist er Arzt, ihre Mutter arbeitet als Krankenschwester und auch die jüngeren Brüder (Vadim 16 Jahre und Wladimir 12 Jahre) praktizieren mit den 32 Figuren. "Ich bin in einer richtigen Schachfamilie aufgewachsen," fasst Anna zusammen, die mit nunmehr Elo 2240 (Stand seit 1. April 2004 und aus Dresden kommen weitere 21 Zähler dazu) als die beste Denksportlerin in 300.000-Einwohnerstadt Brest gilt - sowohl bei den Herren und den Damen!
Schach und Moden der Anna Sharewitsch: Rot sehen. Foto: Harald Fietz
Einen richtigen Schub nahm ihre Schachlaufbahn 2002 mit den ungeteilten Siegen bei der weißrussischen Damenmeisterschaft und dem U-20-Championat. Dies bedeutete das Ticket für die Olympiamannschaft in Bled 2002 ("Meine erste Erfahrung im Frauenspitzenschach."). Und zugleich ein stolzer Moment, denn in Dresden trug sie am Frühstückstisch öfters den rot-grün-weißen Trainingsanzug mit dem großen "Belarus"-Schriftzug, während die Kleiderordnung bei den offiziellen Runden von jugendlich-flippigem Jeansanzug mit poppiger Bluse bis zum Kostüm mit Pastelltönen unterschiedlich kokettierte. Solche Momente galt es auszukosten, denn bislang spielte sie kaum außerhalb russischsprachiger Regionen: "Zwar bekomme ich manchmal etwas finanzielle Unterstützung durch die Sportförderung der Stadt, aber selten vom nationalen Verband. Dort haben sie einfach zu wenig Geldmittel." So hinterlassen Schachreisen wie zum letztjährigen Akropolis-Turnier in Athen bei der fließend Englischsprechenden einen dauerhaften Eindruck. "Ich mag Städte mit geschichtlicher Tradition - etwa Athen, St. Petersburg oder Dresden. Wenn ich neben dem Studium von Schachlektüre und Büchern für die Uni zum Lesen komme, greife ich zu historischen Romanen, vorzugsweise über Frankreich und speziell das 16. Jahrhundert." Ansonsten sind ihre Hobbies ziemlich normal: "Ich widme einige Zeit dem Internet (nicht nur Schach) und gehe gerne mit Freunden weg (z.B. in die Disko oder ins Kino)." Beim Schach in der virtuellen Welt stellte sie sich kurz nach Ostern mit der Teilnahme an einer Vorrunde der Meisterschaft der neugegründeten Spielergewerkschaft einer besonders harten Prüfung. Unter überwiegend Topgroßmeistern von 2500 Elo aufwärts wurde sie allerdings im Blitzen nur geteilte Letzte (und profitierte davon, dass einzig Thomas Luther durch einen Bedienungsfehler der Maus einen Turm einstellte): "Alle wollten unbedingt gegen mich gewinnen! Aber es war ein echtes Vergnügen gegen solche herausragenden Spieler wie Grischuk, Lautier, Vaisser, Zhong u. a. zu spielen, denen ich im richtigen Schachleben nie gegenübersitze."
Schach und Moden der Anna Sharewitsch: Weiß sehen. Foto: Harald Fietz
Sie weiß, dass noch viel zu lernen ist und erachtet es als ideal, dass der Studienzeitplan mit regelmäßigen Turnieren - insbesondere gegen männliche Konkurrenten - kombiniert werden kann. Ihr Schachstreben orientiert sich an einem positionellen Stil, wobei sie vor allem ihrem Idol Anatoli Karpow nachzueifern versucht, wie ihre Lieblingspartie demonstriert.
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Sharewitsch,A (2252) - Prudnikova,S (2426) [E12]
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Für die nahe Zukunft sind die Etappen gesteckt: "Ende April vertrete ich meine Universität bei der Republikmeisterschaft, dann kommen Studienexamen und Ende des Jahres hoffentlich ein Einsatz bei der Schacholympiade in Spanien. In der Perspektive wäre die Frauenbundesliga eine reizvolle, neue Herausforderung. Jede Spielerin wünscht sich solch gute Spielmöglichkeiten." Sicher hätten Pressefotographen in deutschen Landen ihre Freude, ohne gleich eine "Miss Bundesliga" zu wählen. Aber Anna Sharewitsch wollte schon immer lieber auf dem Brett überzeugen.
(erschien zuerst in Schachmagazin 64 , Nr. 8/ 2004, S. 214)