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Bühne ist gut, Zukunft ist besser

Die Weltklassespielerin Alisa Maric findet ihren Platz auf und neben dem Brett

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, August 2002

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   Die Großmeister rätseln. "Wie alt ist Alisa eigentlich?" "Weiß ich gar nicht, noch jung jedenfalls." "Schon, aber auch sehr erfahren." "Ja, sehr erfahren." Das Geburtsdatum erfuhren die Zuschauer bei den Dortmunder Schachtagen an jenem Nachmittag nicht, als Helmut Pfleger und Klaus Bischoff ihr Orakel durch das Dunkel des Goldsaals im Kongresszentrum schickten. Vorher hatten die Runde anmoderierenden Veranstalter lapidar einige ihrer Erfolge im Frauenschach heruntergebetet, doch dann kam der Clou der täglichen Ansprache. Wie die meisten Schachspieler wurde die mit wallendem, kastanienbraunen, rot eingefärbtem Haar und viel Gold geschmückte Schachkünstlerin auf das scheinbar prägnanteste Merkmal im Schach reduziert - die Wertungsziffer auf der Weltrangliste. Hinter dem Namen Alisa Maric steht 2450. Diese Nummer muss herhalten, um dem Dortmunder Publikum zu verkünden, dass ein ungleiches Duell mit einer imposanten Differenz von 100 Punkten ansteht. Das zieht, denn David gegen Goliath mögen alle. In diesem Fall war es jener David, der vor 13 Jahren mit dem Nachnamen Baramidze geboren wurde und für die lokalen Schachfreunde Dortmund-Brackel auf Punktejagd geht. Er schaffte im zweiten Jahresquartal 2002 die dritte IM-Norm und hievte seine Wertungszahl auf 2351. Ihn schickte man in die schachliche Reifeprüfung nach dem Motto "der Kleine gegen die Schöne". Qualitäten und Alter des seit 1998 in Deutschland lebenden gebürtigen Georgiers kannten die meisten Schachfans, aber über die stärkste jugoslawische Schachdame, die bereits 1999 im B-Turnier dabei war, wusste man wenig. Dabei bürgt sie seit 20 Jahren für Schlagzeilen.

   1982 gewann das talentierte Mädchen mit den braunen Augen in der Schachhochburg Belgrad die Frauenmeisterschaft. Da war sie zwölf, denn geboren wurden sie und ihre Zwillingsschwester Mirjana am 10. Januar 1970 in New York. Das US-Recht bietet in solchen Fällen den Vorteil, dass man einen amerikanischen Pass bekommt. Eine doppelte Staatsbürgerschaft garantiert Bewegungsfreiheit, was gerade in der angespannten politischen Lage der 90er Jahre wichtig war. Die Familie kehrte bereits 1971 in die Heimat zurück. Nach einer Tätigkeit bei den Vereinten Nationen nahm der Vater seine Mathematik-Professur wieder auf, die Mutter lehrt Mathematik an einer höheren Schule und auch die Schwester orientierte sich in Richtung von Zahlen und Formeln. Im sozialistischen Sportsystem standen ausreichend Instruktoren zur Verfügung und der nachmittägliche Weg von der elterlichen Wohnung im Belgrader Stadtzentrum zum Schachclub war nicht weit. Die Erwachsenen-Erfolge kamen in den 80er Jahren schnell: 1986 errang sie die nationale Meisterschaft der Frauen und wurde im gleichen Jahr Anführerin des jugoslawischen Frauen-Olympiateams in Dubai. Außer der sportpolitisch bedingten Abwesenheit 1992 hielt sie diese Position bei sieben Treffen der Nationen inne, und 1988 holte die Mannschaft Bronze. Bei Mannschaftseuropameisterschaften waren es aufgrund des Sportboykotts gegen Serbien nur zwei Teilnahmen 1999 und 2001, wobei es beim ersten Mal im georgischen Batumi Silber gab.

 

Alisa Maric

Alisa Maric

 

   Doch dies waren nicht die einzigen Meilensteine einer Karriere, die 1988 mit dem Frauen-Großmeistertitel und 1991 mit dem IM-Titel der Herren belohnt wurde. Viermal spielte Alisa Maric Kandidatenturniere um die Weltmeisterschaft, ebenso wie beide Knockout-Wettbewerbe. Anfang der 90er Jahre trotzten nur sie und die Chinesin Xie Jun der sowjetischen Übermacht im Damenschach. Ihr Kandidatenfinale, das Anfang 1991 zu gleichen Teilen in Belgrad und Peking über die Bühne ging, bestimmte erstmals eine Herausforderin, die nicht aus der stärksten Schachnation kam. Damals war die Kommunikation zwischen den gleichaltrigen Gegnerinnen gering, da die Chinesin noch kein Englisch sprach und auf von der Botschaft übersetzte Tageszeitungsinterviews brüsk reagierte. In denen dachte die Lokalmatadorin angeblich bereits an ihre Aufgabe im Herbst gegen die Weltmeisterin Maja Tschiburdanidse. Inzwischen spricht Xie Jun fließend Englisch, seitdem wurde die Beziehung freundschaftlicher. Als die Chinesin als einzige weibliche Teilnehmerin des Belgrader GM-Turniers im Oktober 2000 die vielen Großdemonstrationen beim Sturz des Milosevic-Regimes beängstigten, diente die ehemalige Rivalin als Fremdenführerin und man traf sich mehrfach privat.

   Die Endphase der Einparteiendiktatur und die anhaltende wirtschaftliche Depression stellten auch Schachprofis vor Existenzfragen. Verbandsstrukturen leisteten wenig, die großen Sponsoren zogen sich notgedrungen zurück. Schachliche Fortschritte mussten selbst organisiert werden. Die ukrainischen Großmeister Alexander Michaltschischin und Andrei Zontakh trainierten während ihrer Aufenthalte im schachverliebten, zerfallenden Vielvölkerstaat die populäre Spielerin, die 1999 zusammen mit ihrer Teamkollegin Natascha Bojkovic zur besten jugoslawischen Sportmannschaft bei den Frauen gewählt wurde. Doch eine Zukunft völlig auf Schach fixiert lässt sich in Krisenzeiten nicht aufbauen - gerade wenn sie nicht ständig unterwegs sein will wie zuletzt im Frühling 1999. Damals fielen die NATO-Bomben auf Belgrad, und Alisa hatte das Glück, gerade in der Schweiz ein Turnier gespielt zu haben. Drei Monate fand sie Unterkunft bei der Tante in Basel. Zurück in der Balkan-Metropole "überraschte" sie Ende des Jahres ihren Heim-Coach Bosko Abramovic mit der Frage, was zum Jahrhundertbeginn neu an ihr sein wird. 100 Mark, ein hartes Währungsargument zu jener Zeit, lobt sie aus. Aber der Großmeister fand die Lösung nicht. Sie lag abseits der 64 Felder: Das 1996 beendete Ökonomie-Studium sollte nun der Einstieg ins Berufleben sein, um in der internen Projektplanung eines staatlichen Mineralölunternehmens Praxis in der Wirtschaft zu sammeln. Fünf-Tage-Woche mit der Möglichkeit, weiterhin international wichtige Turniere zu spielen, sind kein schlechtes Arrangement, aber ein 8-bis-16-Uhr-Job verleitet nicht gerade zum regelmäßigen Schachtraining nebenbei. Aerobic in Fitness-Studio und Theater, noch lieber als Kino, sind die bevorzugteren Zerstreuungen.

 

Alisa Maric

Alisa Maric

 

   Aber keiner, der Reisen, Begegnungen und Ambiente der weltweiten Schachszene genossen hat, zieht sich so einfach zurück. Nicht nur für Dortmund galt: "Ich bin froh, hier eingeladen zu sein. Ich liebe es, auf der Bühne zu sein." Ein hübsches Gesicht hat es manchmal einfacher, als Botschafterin einer bedeutenden Schachnation eingeladen zu werden. Doch Erfolge müssen hinzukommen: Ende 2000 erzielte sie bei der Olympiade in Istanbul am Spitzenbrett 8,5 Punkte aus 13 Partien und bei der FIDE-WM in Neu-Dehli kam sie unter die letzten Vier. Aufenthalte können unterschiedlich sein: In Indien bot ihr die Botschaft ein Betreuungsteam samt Wagen und Ausflugstouren, zuvor beim Weltcup im abseits gelegenen Sportkomplex in Shenyang trug sie allein mit den Organisatoren "Gefechte" wegen des feuchten Hotelzimmers aus. Schachsportler lieben eben gute Konditionen rundum.

 

Alisa Maric

Alisa Maric gegen David Baramidze in Dortmund 2002

 

   Vor Dortmund herrschte trotz des jugendlichen Alters ihres Kontrahenten Kampfgeist: "Ich muss mein bestes Schach bringen, um bestehen zu können." Anders als ihre Schwester, die 1.e4 bevorzugt, fühlt sich die 21 Minuten früher Geborene in geschlossenen Stellungen zuhause. Ausdauer - nicht selten über sechs, sieben Stunden - ist ihr Markenzeichen. Sphinxgleich, ebenmäßig aufrecht kalkuliert sie fast ununterbrochen am Brett. Die neue Zeitregelung ist ihr verhasst, bei der Europameisterschaft in diesem Mai in Warna spielte ihr die Zeitnot öfter einen Streich. Im Tiebreak verpasste sie die Qualifikation für die nächste Frauenweltmeisterschaft, aber bei der kommenden Frauen-EM 2003 kann Alisa Maric den Fehler noch ausbügeln. In Dortmund stellte die Uhr häufig einen hindernden Faktor dar, wenn es galt, die Verteidigung zu organisieren oder das Material zu verwerten. Bei unregelmäßiger Praxis ist eben jede Partie schwierig, wenngleich die Caro-Kann-Verteidigung, die ihr Ljubomir Ljubojevic 1991 als Geheimwaffe für das Kandidatenfinale ans Herz legte, eigentlich ihr Prunkstück ist. Nach der Auftaktniederlage mit Schwarz gelang postwendend der Ausgleich, aber insgesamt ließ sie in der entscheidenden Matchphase zu viele Chancen ungenützt.

 










Maric,A - Baramidze,D [D37]
Dortmund (2. Matchpartie) 2002

 

1.Sf3 d5 2.d4 e6 3.c4 Sf6 4.Sc3 Le7 5.Lf4 0-0 6.e3 b6?! 7.cxd5 exd5 8.Ld3 Lb7 9.0-0 Sbd7 10.Se5 c5 11.Df3 Sxe5 12.dxe5! Se8 13.Tad1 Sc7 14.Lc4! dxc4 15.Dxb7 Dc8 16.Dc6 Se6 17.Db5 [Der Blitzspezialist Klaus Bischoff schlug als Live-Kommentator ein bewährtes Sprinermotiv vor: 17.Sd5 , doch die Jugoslawin verwarf dies wegen 17...De8 . Danach ist nicht mehr so viel Spannung in der Stellung.]

17...a6 18.Dxc4 b5 19.De2?!
[Hinter dem Mikrophon gefiel Bischoff und Lutz 19.De4!? besser, aber Weiß bevorzugt es, die Dame fast von der Grundreihe einzusetzen. der Nachteil ist, das Schwarz die Kontrolle über e4 erhält.]

19...Db7 20.Lg3 Tfd8 21.b3 Tac8 22.f4 f5 23.exf6 Lxf6 24.Dc2 Lxc3 25.Txd8+ Txd8 26.Dxc3 De4 27.f5 Td3 28.Dc1 Sg5
[Lutz erwog 28...Sf8!? 29.Dxc5 Td2 30.Lf2 Txa2 mit Gegenspiel.]

29.Dxc5 Td2 30.Lf2 Dg4 31.Dc8+ Kf7 32.Dc7+ Kf6?
[Nach 32...Kg8 bleibt das Spiel offen. Jetzt folgt ein forciertes Ende. Die letzte Taktik verpufft.]

33.Lg3 Txg2+ 34.Kh1!
[Ein kurzer Blick genügt, um die Falle zu erspähen: 34.Kxg2? De4+ 35.Kf2 (35.Kg1! Sh3# ) 35...Df3+ 36.Ke1 Dxe3+ 37.Kd1 Dd3+ 38.Ke1 De3+ mit Dauerschach!]

34...Txh2+ 35.Kxh2!
[Nur 35.Lxh2? De4+ 36.Kg1 Sh3# sollte nicht geschehen!] 1-0

 

   Partie vier hätte taktisch erobert werden können, kippte aber völlig.

 










Maric,A - Baramidze,D [D37]
Dortmund (4. Matchpartie) 2002

 

1.Sf3 d5 2.d4 e6 3.c4 Sf6 4.Sc3 Le7 5.Lf4 0-0 6.e3 c5 Baramidze hat sich das Eröffnungssytem angeschaut und wiederholt 6...b6?! nicht.

7.dxc5 Lxc5 8.a3 Sc6 9.Le2 dxc4 10.Lxc4 a6 11.Dc2 Ld7 12.0-0 Tc8 13.Tfd1 h6 14.Tac1 Le7 15.La2 Da5 16.Sd2 b5 17.Sde4 Sxe4 18.Dxe4 b4
[Vorsicht wegen 18...Tfd8 19.Txd7! Txd7 20.Lxe6 fxe6 21.Dxe6+ und Weiß steht auf Gewinn.]

19.Txd7 bxc3 20.Lb1 g6 21.Txc3 Lf6 22.b4 Sxb4 23.Txc8?
Verpasst den Zeitpunkt für einen schönen Taktiksieg: [23.Txf7! Kxf7 24.Ld6 Alisa gestand später mit einem Seufzer ein, die Wirkung dieses "stillen Zuges" nicht richtig eingeschätzt zu haben. Alle Varianten gewinnen für Weiß: 24...Dh5 (24...Th8 25.Db7+ Ke8 26.Txc8++- ; 24...Dg5 25.h4 Dh5 26.g4+- ; 24...Df5 25.Db7+ Kg8 26.Lxf5+- ; 24...e5 25.Dxg6+ Ke6 26.Lxb4 Db6 27.Dg4+ Kf7 (27...Kd5 28.Le4# ) 28.Dd7+ Le7 29.Dxe7+ Kg8 30.Dh7# ) 25.g4 Dg5 26.h4!+- ]

23...Txc8 24.h4 Sd5 25.Kh2 Db5 26.Txf7 Kxf7 27.Dxg6+ Ke7 28.Lxh6 Th8 29.Lg5 Db8+ 30.g3 Dg8 31.Lxf6+ Sxf6 32.Dc2 Dc8 33.Db2 Db8 34.Dc1 Txh4+ 35.Kg1 Th5 36.Lg6 Th6 37.Dc5+ Dd6 38.Da7+ Sd7 0-1

 

   Anschließend danach schöpften beide in einen Endspiel mit Dame gegen Turm und Läufer fast die gesamte Bedenkzeit aus - am Ende blieb aus ihrer Sicht nur ein unbefriedigendes Remis nach 126 Zügen. Nur in der letzten Partie ließ die Konzentration des Jugendtalents nach und das Können der Jugoslawin blitzte auf.

 










Maric,A - Baramidze,D [D37]
Dortmund (8. Matchpartie) 2002

 

1.Sf3 d5 2.d4 e6 3.c4 Sf6 4.Sc3 Le7 5.Dc2 c6 6.e4 dxe4 7.Sxe4 Sxe4 8.Dxe4 Sd7 9.Ld2 c5 10.dxc5! Ein neues Konzept

10...Sxc5 11.De3 0-0 12.Le2 b6 13.b4 Sd7 14.0-0 Lf6 15.Tac1 Lb7 16.Tfd1 De7 17.Sg5 Tac8 18.Se4 Le5 19.f4 Lb8 20.Lc3 f5 21.Sg5 e5 22.c5!
Wie im Lehrbuch!

22...bxc5 23.Lc4+ Kh8 24.Sxh7 Kxh7 25.Dh3+ Kg6 26.g4 Th8
[Schwarz kann keinen Widerstand mit seinen deplatzierten Figuren mehr leisten: 26...fxg4 27.Dxg4+ Kh6 28.Dh3+ Kg6 29.Txd7 ]

27.gxf5+ Kf6 28.Dg4 1-0

 

   Insgesamt aber bilanzierte die ehemalige Kuppenheimer Spitzenspielerin zu viele einfache Ursachen für die knappe 3,5:4,5 Niederlage.

   Aber der Blick geht nach vorne, denn für das restliche Jahr bedarf es einiger betrieblicher Freistellungen. Ende August steht die nationale Frauenmannschaftsmeisterschaft an, die parallel mit den Männern zentral gespielt wird. Bisher war sie mit Agrouniversal Zemun, dem Topverein aus der Nähe von Belgrad, erfolgreich, denn dreimal gewann man zudem - u.a. verstärkt durch die Russin Alisa Galjamowa - den Europapokal für Clubmannschaften (1996 in Smederevska Palanka, 2000 in Halle und 2001 in Belgrad). Doch nun entsteht bei RAD Belgrad ein Spitzenteam, da ein neues Management und eine Baufirma als Sponsor eingestiegen sind. Mit einem Dreamteam will man erst national den Titel holen und dann Ende September beim EU-Team-Cup im türkischen Antalya an den Start gehen. Dazu wurden zwei Stars der gegenwärtigen Frauenszene verpflichtet: Vizeweltmeisterin Alexandra Kostenjuk und Europameisterin Antoneta Stefanova können zudem bei einem Trainingslager ihre Stärken zeigen, ebenso wie ihre Zwillingsschwester und eine weitere Spielerin. Die Schnellschach-Europameisterschaft am gleichen Ort und die Olympiade Ende Oktober in Bled sind ebenfalls eingeplant. Aber auch die deutschen Schachfans können wieder auf einen Auftritt hoffen. Frauenbundesliga-Vizemeister SK Turm Emsdetten sicherte sich die Dienste der 32-Jährigen. Vielleicht kündigt der Veranstalter mal uncharmant ihr Alter an, dann können sich die Schachfans ganz den Rätseln auf dem Brett widmen.

(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 15, 2002), auf Englisch: http://www.chesscafe.com/text/skittles188.pdf


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