Kasparow verleiht Chipleuchtturm SchachglanzDresdner Schacholympiabewerbung als Schulterschluss einer Region angestoßenvon Harald Fietz, Mai 2004 |
Zukunft braucht Visionen, Visionen brauchen Startschüsse. Bevor es bei der Fraueneuropameisterschaft in der letzten Märzwoche auf die Zielgrade ging, startete - bereits vor dem offiziellen Abgabetermin am 15. April 2004 - das Rennen für Dresdens Bewerbung um die Schacholympiade 2008. Der Zeitpunkt konnte nicht trefflicher gewählt werden, weihte doch einer der großen Förderer des königlichen Spiels in Elbflorenz einen neuen Unternehmenscampus ein. Und dazu holte ZMD, das Zentrum für Mikroelektronik Dresden, einen - wie es Vorstandsvorsitzender Thilo von Selchow ausdrückte - "persönlichen Freund" in das nach kalifornischem Vorbild konzipierte "Silicon Saxony". Garry Kasparow nutzte die Gelegenheit, um an allen Fronten Anliegen zu puschen.
Der Weltranglistenerste Garry Kasparow (Zweiter von rechts) als Fackelträger für Technologieinnovationen freut sich mit ZMD-Vorstand Thilo von Selchow (links) über die Eröffnung des neuen Betriebsgeländes. Im Hintergrund Ministerpräsident Prof. Dr. Georg Milbradt, Oberbürgermeister Ingo Roßberg und Opel-Vorstandsvorsitzende Carl-Peter Forster. Foto: Harald Fietz
Kurz nach dem Erfolg beim Reykjaviker Schnellschachturnier staunte er nicht schlecht, als in kürzester Zeit 200 Exemplare seines zweiten deutschsprachigen Bandes über die Weltmeistervorgänger signiert und weg waren. Frühes Pech für die Buchhandlung: Ausverkauft! 2000 Leute drängten sich am letzten Märzfreitag in der zentral gelegenen , wo noch einen weiteren Tag - durch die kurzweiligen Moderationen des "Hamburger Imports" Christian Zickelbein - ein abwechslungsreiches Programm Schachfreunde, Halblaien und völlig Unbedarfte in Bann zog.
Trotz Bundesligawochenende aus Dresdens Partnerstadt angereist "trommelte" Christian Zickelbein (links), der Vorsitzender des Hamburger SK 1830 e.V., nicht nur mit anregenden Schilderungen für Aufmerksamkeit, sondern begeisterte auch die Jüngeren mit seinen Ausführungen über das Mattsetzen im Endspiel. Foto: Harald Fietz
Dresdens Schachlegende Wolfgang Uhlmann ließ es sich zwei Tage vor seinem 69. Geburtstag nicht nehmen, die 13-jährige Nachwuchshoffnung Falko Bindrich zu testen, gedankenversunkene Teilnehmer der Familien- und Schülerturniere spielten unbekümmert zwischen tütenbeladenen Käufern in der Shoppingmall, das Ströbecker Lebend-Schach-Emsemble faszinierte trotz der betrüblichen Entwicklung mit der Auflösung der Schachschule und die Cheerleader des lokalen Eishockeyteams erstaunten mit flotter Schachchoreographie.
Schach mal anders: Hübsch, schnell und ziemlich lebendig. Die Cheerleader der Dresden Eislöwen ließen sich eine dynamische Tanzperformance einfallen. Foto: Harald Fietz
Der Normalbürger bekam zu spüren, was stadtweit großflächige Plakate und Informationsflyer in öffentlichen Verkehrmitteln kündeten: Vom 20. März bis 3. April herrscht bei der Frauen-EM zwei Wochen Schachfieber.
Nach einem kurzen Samstagauftritt in der Bundeshauptstadt sorgte natürlich der seit 20 Jahren an der Spitze der Weltrangliste stehende Ausnahmekönner Kasparow für die schnellsten Herzschläge abseits der Frauenkonkurrenz. Viele wichtige Hände wurden geschüttelt, denn schließlich will man in vier Jahren in der oft als "heimliche deutsche Schachhauptstadt" titulierten Sachsenmetropole die nach den Olympischen Spielen weltweit zweitgrößte Sportveranstaltung haben. In das Bild der Leipziger Olympiabewerbung für 2012 passt ein dopingfreier, intellektuell-spannender Sport ebenfalls perfekt: Großer Testlauf für einen noch größeren Sportmarathon. Alle Ebenen aus Politik, Wirtschaft und Sport machten mobil. Anders als Kasparow verband Bundesinnenminister Otto Schily den offiziellen Unterzeichungsakt mit einem Abstecher zur Frauen-EM im Treff-Hotel, wo er Pähtz solange die Daumen drückte, bis diese gegen die Ukrainerin Olga Alexandrova nur noch die Könige auf dem Brett hatte. So erschöpfend zockte der SPD-Politiker im Stadtrathaus auf einem Porzellanspiel nicht. Nach einigen Zügen hatten die Fotographen ausreichend Blitzlicht verschossen.
Ein paar Züge gehören zum guten Ton. Innenminister Otto Schily (links) hatte gut lachen, denn selbstverständlich quälte ihn die Nummer eins im Weltschach beim friedlichen Ausgang nicht lange. Foto: Harald Fietz
Der erste schachpolitische Zug war da schon vollbracht. Bund, Land und Stadt legten ebenso wie die Dresdner Wirtschaft das Bekenntnis zur vollen Unterstützung für die vom Deutschen Schachbund an den Weltschachverband übergebene Bewerbung ab. Boris Kutin, der Präsident der Europäischen Schachunion, nahm in seiner Funktion als FIDE-Kontinentalpräsident für Europa von DSB-Präsident Alfred Schlya außerdem eine maßkruggroße Porzellanfigur - natürlich einen König - in Empfang.
Nun ist die FIDE am Zug: DSB-Präsident Alfred Schlya (links) übergab ECU-Präsident Boris Kutin die Dokumente der Olympiabewerbung und einen Porzellankönig zur Erinnerung. In der Mitte freut sich Bürgermeister Wilfried Lehmann. Foto: Harald Fietz
Flankiert wurde er bei diesem symbolischen Akt von den beiden FIDE-Vizepräsidenten, Zurab Azmaiparashvili aus Georgien und P. T. Ummer Koya aus Indien. Den meisten Applaus erhielt allerdings erneut Kasparow für seine prägnanten Ausführungen über die Dresdner Schachtradition und zum vorhandenen Entwicklungspotential. Besonders hob er das kenntnisreiche, persönliche Engagement des Bundesinnenministers hervor. In jeden Journalistennotizblock und jedes Fernseh- und Radiomikrophon predigte er freudestrahlend diese seiner Meinung nach besonders hilfreiche Personalkonstellation.
Die Wirkung seiner Ansprache und Appelle wusste man am darauffolgenden Tag, bei ZMD nun schon zum siebten Mal zu schätzen. Das nach Infineon und AMD drittgrößte Unternehmen des in Europa wichtigsten Chipstandorts setzte mit der Einweihung eines neuen Betriebsgeländes seinen Weg zu einem der wichtigsten wirtschaftlichen "Leuchttürme" der Region fort. Trotz des Einbruchs des Halbleitermarktes im Jahr 2000 verdreifachte sich der Umsatz seit 1999 auf 90 Millionen, die Mitarbeiterzahl stieg von 250 auf 750. Natürlich gelang der Übergang vom ehemaligen DDR-Kombinat zum zukunftsträchtigen Unternehmen (für Chipsätze, Speicher und Prozessoren u. a. in der Automobilelektronik und der Medizintechnik) mit reichlich Subventionen. Das Land Sachsen, repräsentiert durch den Ministerpräsidenten des Freistaates Prof. Dr. Georg Milbradt, hält noch eine 10%-Beteiligung. Doch dieses Geld weiß der CDU-Politiker sicher besser angelegt, als seine Partie in einem ungewöhnlichen Simultan gegen das Moskauer Superhirn.
Noch strahlt Sachsens Ministerpräsident Prof. Dr. Georg Milbradt, aber gleich zeigt Kasparow, was Sache ist. Foto: Harald Fietz
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Kasparow - Milbradt [C50]
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Vielleicht lag es an den ungewöhnlichen High-Tech-Spielbedingungen. Keine profanen Auge-in-Auge-Begegnungen mehr, Flachbildschirm statt Holzbretter: Alle Beteiligen schauten von einer Bühne in die Festversammlung. Ganz oben thronte der russische Schachkönig, eine Stufe darunter die fünf Herausforderer - jeder ausgestattet mit 25 Minuten (plus 10 Sekunden pro Zug) -, verbunden über einen Schachserver und natürlich dem Internet.
Garry Kasparow (hinten) bereitete ZMD-Vorstand Dr. Karl-Heinz Stegemann (vorne links) und Sachsens Ministerpräsident Prof. Dr. Georg Milbradt Kopfzerbrechen. Foto: Harald Fietz
Außer Milbradt stellten sich Schachfunktionär Kutin, Dr. Markus Guthoff (Vorstand der IKB Deutsche Industriebank, die einen 6,4%-Anteil an ZMD besitzt), Dr. Karl-Heinz Stegemann (ZMD-Vorstand im - auf Neudeutsch bezeichneten - Bereich "Process Integration" und seit langem dem Schach verbunden als Mitgründer des Dresdner Schachmarathons in 1984 und des Schachfestivals in 1990) und Carl-Peter Forster (Vorstandsvorsitzender der Rüsselsheimer Adam Opel AG und Aufsichtratmitglied bei ZMD). Letzteren unterstützte das am Anfang des Schuljahrs aus Augsburg nach Dresden gewechselte elfjähige Nachwuchstalent Felix Graf (Dritter der deutschen U-10-Meisterschaft 2003).
Ob alt oder jung: Gute Züge will jeder - hier Nachwuchstalent Felix Graf und Carl-Peter Forster - finden und gerade gegen den legendären Kasparow! Foto: Harald Fietz
Während Big K in allen Partien bald Material einsammelte, wehrte sich das Tandem aus jungem Schachverstand und erfahrener Wirtschaftskompetenz ausdauernd. Doch beim Übergang ins Leichtfigurenendspiel entstanden notgedrungen Einbruchsfelder für den König des Topspielers. Ein 5:0 bedeutete am Ende insgesamt ein standesgemäßes Kasparow-Resultat.
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Kasparow,G - Forster/Graf [A08]
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Trotz der schachlichen Dominanz des Einzelkämpfers hatten während dieser Tage der Werbung für den Denksport aber eigentlich alle gewonnen. Wo sich selbst der beste Repräsentant der traditionellen Schachnation Russland wohlfühlt, nährt sich im Zusammenspiel mit Politik und Wirtschaft die Hoffnung auf weitere, prestigereiche Veranstaltungen. Trefflich brachte es Geburtstagskind Uhlmann auf den Punkt: "So oft habe ich das Wort Schach bei einem Unternehmen noch nie gehört." Da kann ein großes Unternehmen mit großen Unternehmen gelingen.
(erschien zuerst in Schachmagazin 64 , Nr. 8/ 2004, S. 209/210)