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Die vierte Macht in ihrem Element

KARL rückt 125 Jahre des Deutschen Schachbunds in den Mittelpunkt

von Harald Fietz, April 2002

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

Schachzeitschrift KARL 1/2002

Die aktuelle KARL-Ausgabe

 

   Deutschsprachige Schachspieler haben es gut. Nirgendwo gibt es so viele Schachzeitungen. Das vierzehntägige "Schachmagazin 64" und die Monatszeitschriften "Schach" und "Europa-Rochade" drucken fünfstellige Auflagen und auch ein mittelgroßes Blatt wie der "Kaissiber" findet seine Nische. Dazwischen gemogelt hat sich "KARL", eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift für Schachkultur.

   Angefangen hat alles vor mehr als 18 Lenzen im Club der Schachfreunde Schöneck. Über die Jahre etablierte sich ein regionales Kultblatt, das mehr sein wollte als eine gewöhnliche Vereinszeitung. Kommunikation, Ansichten, Realitäten und Lorbeerkränze wählte man als Synonyme für den extravaganten Namen. Geschätzt wurden die Ausgaben im A-4-Format wegen der unkonventionellen Schreibe zu lokalen und überregionalen Themen. Noch war das allerdings die Zeit der schlichten S/W-Vervielfältigung. Während der Chess Classic 2000 interessierte sich sogar der Weltklassespieler Wassili Iwantschuk für die Hefte, als er mit Genehmigung des Pressechefs Hartmut Metz die Druckerzeugnisse in dessen Hotelzimmer ausräuberte. Heute dagegen würde er Hochglanzmagazine mitnehmen. Denn seit Mitte 2001 wagen die Macher den Sprung auf die nationale Bühne. In Kooperation mit IM Stefan Löffler verschrieben sich zu Beginn FM Harry Schaack und FM Johannes Fischer der Philosophie, mit Themenschwerpunkten Angelegenheiten rund um das Schach mit Tiefenblick zu beleuchten. Nach dem Tempo im Schach, dem Internet und den Wunderkindern fokussiert das aktuelle Heft 1/2002 auf die Geschichte des Deutschen Schachbunds (DSB). Da Löffler inzwischen seinen beruflichen Lebensmittelpunkt nach Wien verlegt hat, leiten unter der Verantwortung von Schaack die beiden "Schönecker Urgesteine" die redaktionellen Geschicke.

FM Johannes Fischer

FM Johannes Fischer

      FM Harry Schaack

FM Harry Schaack

 

   Rechtzeitig zum Festakt des DSB vom 9.-11. Mai 2002 in Leipzig dreht sich alles um Ent- und Verwicklungen im deutschen Schach der vergangenen 140 Jahre. Denn obwohl sich der DSB im Jahre 1877 in der sächsischen Metropole konstituierte, gab es mit dem 1862 gegründeten Westdeutschen Schachbund einen Vorläufer, der institutionell und organisatorisch wichtige Vorarbeiten leistete. Harald Ballo zeichnet 15 Jahre des auflebenden Schachlebens im Deutschen Reich zwischen Turnieren, Magazinen und Personen nach. Die durch die Herausgabe der jüngsten Lasker-Biographie bekannten Dr. Ulrich Sieg und Dr. Michael Dreyer konzentrieren ihre Beiträge auf zwei andere - gegensätzliche - Phasen. Anhand der Traditionsturniere von Hastings 1895, Wien 1898 und St. Petersburg 1914 skizziert Sieg den "nationalen Wettstreit und bürgerliche Respektabilität". Hier interessiert, was rund um Meilensteine der Schachgeschichte passierte. Ein düsteres Kapitel der Ränkespiele von Schachfunktionäre hinterfragt dagegen Dreyer. Unselige Melangen von Machteifer, Rivalitäten und Anti-Semitismus bildeten die Eckpfeiler eines bislang vielfach vernachlässigten Kapitels der deutschen Schachgeschichte. Vorangegangen war die Zerschlagung verschiedener parallel existierender Schachbünde mit konfessioneller oder ständischer Ausrichtung. Es entstand ein monolithischer Einheitsverband, der Großdeutsche Schachbund. Eine Traditionslinie, die nach 1945 in Strukturen und Amtsträgern gewisse Fortsetzungen fand. Mit Auswüchsen der verpassten Erneuerung geht Heinz Brunthaler kritisch ins Gericht. Andere Themenkreise der Behäbigkeit eines großen Verbands sind bei ihm u.a. die verpassten Chancen in der Jugendarbeit und die mangelhafte Flexibilität der Integration von Privatinitiativen mit umtriebigen Organisatoren und ihren potenziellen Kontakten zu Sponsoren. Einen besonderen Fall von Funktionärswillkür rekonstruiert Harry Schaack. Das Ausbooten des Wiesbadener Karl Linnemann wird in der Art eines Kriminalfalls nachgezeichnet. Alle Beiträge bilanzieren viele neue Fakten, provokante Blickwinkel und vernachlässigte Zusammenhänge.

   Persönlicher geprägt sind drei Beiträge von Autoren aus der früheren DDR. Paul Werner Wagner, der Vorsitzende der Emanuel Lasker Gesellschaft, nimmt sein persönliches Schicksal der Inhaftierung als Republikflüchtling als Ausgangspunkt, Behinderungen und Einflussnahmen auf das königliche Spiel im sozialistischen Staat zu identifizieren. Karrieren und Schicksale von Spielern und Organisatoren werden in ihren Abhängigkeiten aufgezeigt. Zeitgeschichtliche und schachliche Umstände erfährt man rund um eine ausführlich kommentierte Partie von Wolfgang Uhlmann gegen Wassili Smyslow. Sein "Schokoladenturnier" war beim Klassenfeind in Hastings. Besonders umfassend kommt ein Repräsentant der Nachwende-Ära zu Wort. Mit Unterstützung von Johannes Fischer schildert Thomas Luther detailreich und mit erfrischender Reflektion seinen Werdegang und den Zustand der Schachszene. Betrachtungen des Fernschachschachgroßmeisters Hans-Markus Elwert und ein Porträt des verdienten Schachorganisators Reinhold Hoffmann vervollständigen den kompakten Blick hinter die Kulissen der deutschen Schachwelten. Daneben gibt es Statistiken, die Vierteljahresbilanz aktueller Turniere, eine Taktikecke und einen Terminkalender. Alles wird vervollständigt mit viel bekanntem und unbekanntem Fotomaterial und gediegenem Layout. Leider mussten die launig-witzigen - bisweilen sehr persönliche gefärbten - Buchbesprechungen, die sich wohltunend vom Rezensionseinheitsbrei abheben - aufgrund der Fülle an Beiträgen auf die Internet-Seite unter www.karlonline.org "verbannt" werden. Auch sie sind kompetent und ohne Zurückhaltung geschrieben.

   Gerade die klare Positionierung zu teilweise verschollenen Informationen und den Neubewertungen von Kontexten des Schachlebens in Deutschland muss als erfrischendes Element in der überwiegenden Zahl der Artikel hervorgehoben werden. Die deutschsprachigen Schachspieler haben es jetzt noch besser. Nur müssen sie ihren Allerwertesten hochkriegen und den kleinsten Schein im Euroland aus dem Portemonnaie ziehen. Dann bekommen sie für einen Fünfer Lesevergnügen statt. Und in drei Monaten dreht sich alles um den legendären Bobby Fischer. Am besten man bestellt ein Abo, dann stellt man regelmäßig fest, dass hier eine seriöse Ergänzung zu den etablierten Printmedien des Schachwissen aufgerückt ist. Eine Empfehlung kann uneingeschränkt ausgesprochen werden. Gönnen sie sich ein wenig mehr!


Bewertung: 5 Sterne

Zielgruppe: Alle Schachspieler unabhängig von der Spielstärke, die ein Bewusstsein haben, dass wir die 64 Felder nicht nur beackern, um eine "1" in der Tabelle zu erringen. Jede Zivilgesellschaft sollte sich glücklich schätzen, dass bewährte und neue Schachzeitungen den Stellenwert und das Umfeld des königlichen Spiels selbstkritisch analysieren.

Besonderheiten: Es hilft nicht vielleicht nicht in erster Linie der Spielstärke, den "KARL" zu lesen, aber wer etwas Fluidum der Szene erfassen will, der kann hier nichts falsch machen.


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