Startseite Rochade Kuppenheim

Großer Wurf - weit daneben

Vorläufiger Reformstop beim Cottbusser DSB-Kongress; Präsident Schlya schlingert zwischen Machterhalt und Zukunftsvision

von Harald Fietz, Juli 2003

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

   Es war ein sommerlicher Samstag, der 31. Mai in der Lausitz. Im Cottbusser Fürst-Pückler-Park flanierten die Touristen. Nicht weit entfernt ging es im Best-Western-Hotel im gutsituierten Stadtteil Branitz weniger gemütlich zu. Beim 96. DSB-Kongress standen einige heiße Themen auf der Tagesordnung: Strukturreform, Ausländerregelung und Beitragserhöhung spalteten die Gemüter. Ausgaben senken, Verwaltung und Gremien verschlanken, Zuständigkeiten bündeln, internen und externen Sachverstand besser nutzen sind derzeit gesellschaftspolitische Topthemen - von fast jedem als notwendig erachtet, aber immer kontrovers diskutiert. Am 1. Juni musste Bundeskanzler Schröder auf einem Sonderparteitag um möglichst hohe Zustimmung für eben solche Zielrichtungen in seiner Agenda 2010 streiten; 80% im eigenen Lager hätten politische Beobachter bereits als Niederlage gesehen. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte das 90%-Placet: "Im Bann des Bezwingers. Die SPD folgt ihrem Vorsitzenden. Sie tun es ohne Begeisterung, aber auch ohne Murren."

   Von so einer Haltung in seinen Reihen kann DSB-Präsident Alfred Schlya nur träumen. Beim Deutschen Schachbund existiert noch häufig, was Schröder die "Trägheit im Denken" nannte. Ein "Wandel der Mentalität" würde bedeuten, zunächst Macht zu verlieren, um sich in optimierten Strukturen wieder Einfluss zu erarbeiten. Bisher sprechen viele mit und die sind grundsätzlich skeptisch, ob eine neue Struktur "effizientere, schnellere und kostenstraffende Abläufe" (Schlya im Antrag) bringt. Misstrauen grassierte, denn die zwei Tage vor der Abschlusssitzung waren zwischen DSB-Spitze und den Vertretern der Landesverbände durch Feilschen um Aufgaben und Zuständigkeiten geprägt. Selbst präsidiumsintern fiel der Entwurf eklatant durch. Auf vier Maßnahmen hoffte die Strukturreform zu bauen:
 

  1. Der jährliche DSB-Kongress soll ab 2005 alle zwei Jahre stattfinden.

  2. Das bestehende Präsidium (14 Mitglieder) soll verkleinert werden. Dem neuen Präsidium soll der Präsidenten, dann drei statt bisher zwei Vize-Präsidenten und der Schatzmeister angehören. Die Vizepräsidenten sollen konkrete inhaltliche Anbindung erhalten und Aufgaben der Referenten koordinieren.

  3. Ein erweitertes Präsidium soll die Landesverbände und weitere Mitgliedsorganisationen einbeziehen. Das bisher beratende Gremium wird zum Entscheidungsorgan, gleichwohl 20 der 27 Mitglieder nicht vom Bundeskongress gewählt werden und ihm gegenüber keine Verantwortung tragen.

  4. Die Zahl der ständigen Kommissionen soll von zehn auf drei (Leistungssport, Bundesspielbetrieb und Breitenschach) reduziert werden.

   Um diese Reform mit satzungsändernder Zweidrittelmehrheit durchzusetzen, hatte sich Schlya eine Salami-Taktik ausgedacht; zunächst geht es um die ersten 25 Paragraphen, dann die nächsten 25 und schließlich den Rest. Klappt es, alles zu befürworten, wird über das Gesamtpaket nochmals abgestimmt. Schnell zeigte sich jedoch, dass zum vorliegenden Materialienband in den 48 Stunden zuvor so viele Details umformuliert wurden und Paragraphen miteinander verzahnt sind, dass das ersonnene Prozedere zu unübersichtlich und zeitaufwendig war. Ratlosigkeit drückte die Nachmittagsstimmung. Schlya versuchte zu retten, was zu retten war. Es sollten daher die vier zentralen "Knackpunkte" erörtert und abgestimmt werden, damit in den kommenden Monaten das neuformulierte - aber schon akzeptierte - Satzungswerk vorgelegt werden kann. Der 91-jährige Ehrenpräsident Alfred Kinzel, selbst in seiner Berufslaufbahn mit der Berliner Polizeireform betraut, mahnte professionelleres Vorgehen an und forderte Schlya angesichts des Schlingerkurses zum Rücktritt auf. In seiner "letzten Rede" auf einem DSB-Kongress resümierte er fast philosophisch: "Keine Forschung ist so schwierig, wie in die Zukunft zu schauen. ... Ich spreche nicht gegen die Reform, sondern gegen den Reformdruck. Ich meine, die Schwachstellenanalyse ist ungenügend gemacht worden. Als in den letzten Tagen Satzungsänderungen umformuliert wurden, kam ich mir wie auf einem orientalischen Basar vor. ... Das Präsidium ... wurde zu keinem Zeitpunkt ... über das Reformvorhaben unterrichtet. Der eigene Präsident ignorierte sein Präsidium. Der Unmut darüber zeigte sich in einer Geheim-Abstimmung innerhalb des Präsidiums. Ergebnis: 3 Ja- und 13 Nein-Stimmen zum Reformvorschlag. Dieses Ergebnis hätte zu Zeiten meiner Präsidentschaft Gedanken an einen Rücktritt ausgelöst." Obwohl die Delegierten Kinzels Statement mit stehendem Applaus beschieden, sah Schlya keinen Handlungsbedarf.

 

Alfred Kinzel, Alfred Schlya

Nicht der einzige Schatten über dem DSB-Kongress. Nach den kontroversen Debatten forderte der 91-jährige Ehrenpräsident Alfred Kinzel (Hintergrund mit Mikrophon) den amtierenden Präsidenten, Alfred Schlya (rechts), kaum verhohlen, aber erfolglos zum Rücktritt auf. Foto: Harald Fietz

 

   Trotz Bedenken einzelner Landesverbände wurde der zweijährige, kostensparende Kongress-Turnus problemlos angenommen. Dann ging es an das Herzstück der Reform, die Machtkonzentration im verkleinerten Präsidium. In einer engagierten Rede forderte Patrick Wiebe, der 1. Vorsitzende der Deutschen Schachjugend, dass die über 26.000 Kinder und Jugendlichen im 94.000-Mitgliederverband nicht einfach aus dieser höchsten Entscheidungsebene "weggeparkt" werden können. Mit der zusätzlichen Kommunikationsebene über einen Vizepräsidenten wächst die Gefahr von Abstimmungs- und Informationsschwierigkeiten. "Wenn wir Zukunft im deutschen Schach haben wollen, dürfen wir die DSJ nicht aus diesem Altmännergremium ausschließen", unterstützte Christian Zickelbein, der Vertreter der Vereine der 1. Herrenbundesliga, das Anliegen. Obwohl es kaum Gegenargumente gab, erhielt dieser Antrag mit 103 Ja- und 117 Nein-Stimmen (bei 16 Enthaltungen) - sichtlich zum Gefallen von Schlya - keine Mehrheit. Der Weg schien frei, die geplante Präsidiumszusammensetzung zu bekommen. Aber die Stimmung war gekippt! Mit 146 Ja-Stimmen (bei 74 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen) verfehlte man mit 63% die erforderliche Zweidrittelmehrheit knapp. Das Chaos schien perfekt. Um das Vorhaben nicht abzuwürgen, schlug Präsidiumsmitglied Ernst Bedau nach einer Beratungspause mit Vertretern von Bundes- und Landesorganisationen vor, die Reform in den kommenden Monaten nochmals zu diskutieren. Den Entscheidungszugzwang fasste er mit den Worten zusammen: "Alles steht zur Disposition!" Für den Beobachter stellt sich die Frage, warum eine solche Konsensbildung nicht bereits in den 14 Monaten zuvor gelang. Im Jahr eins nach dem 125-jährigen Jubiläum wurde die im Ansatz richtige Modernisierung der Verbandsstruktur an die Wand gefahren. Man fängt fast wieder von Null an, denn ein Satzungsausschuss soll Diskussionspunkte von allen Ebenen (Vereine, Bezirke, Landesverbände, DSB-Gremien) einholen.

 

Neue Ehrenmitglieder beim DSB-Kongress

Vier neue Ehrenmitglieder ernannte der DSB-Kongress. Neben den Großmeistern Wolfgang Uhlmann (links), Wolfgang Unzicker (rechts) und Lothar Schmid (bereits abgereist) wurden vor allem 14 erfolgreiche Jahre Arbeit von Dr. Heinz Meyer (Zweiter von links) im obersten DSB-Gremium gewürdigt. Mit auf dem Bild Alfred Kinzel (Mitte) und Alfred Schlya (Zweiter von rechts). Foto: Harald Fietz

 

   Die Unzufriedenheit spiegelte sich bei den nachfolgenden Präsidiumsneuwahlen wider. Die Landesfürsten ließen ihre Muskeln spielen. Ohne Gegenkandidat erhielt Schlya in jetzt geheimer Abstimmung nur 127 Ja- und 78 Nein-Stimmen (bei 13 Enthaltungen). Gerade einmal 57% Zustimmung müssten eigentlich ernsthaft Anlass zum Nachdenken geben. Sicher hatte man an diesem Ort, wo früher eine SED-Parteischule bessere Abstimmungsresultate ideologisch vorbereitete, kein 96%-Resultat - wie bei Schlyas Wahl im Jahr 2001 - erwartet, doch mancher hätte diesen dürftigen Vertrauensbeweis als Signal verstanden und wäre beiseite getreten. Aber Schlya waltete weiter. Auch bei den Vizepräsidenten sprachen die Ergebnisse eine klare Sprache, obwohl es wegen der verworrenen Abstimmungsführung des Präsidenten reichlich ungültige Stimmen gab: Heinz-Jürgen Gieseke ging gestärkt hervor (121 Ja- und 55 Nein-Stimmen, 30 Enthaltungen, 11 ungültige Stimmen); Siegfried Wölk dagegen kam mit einem tiefblauen Auge davon (103 Ja- gegenüber 101 Nein-Stimmen, bei 15 Enthaltungen, 18 ungültige Stimmen). Hier könnten sich bereits personelle Optionen für die Zukunft abzeichnen. Ansonsten bot das Personalkarussell alles: Erneuerung, Kontinuität, Bauernopfer und offene Ämter! Mit dem neuen Schatzmeister Michael Langer zog ein junges Gesicht ins Präsidium ein, Klaus Deventer, der neue Referent für Leistungssport, bringt jahrelange Kompetenz in DSB-Gremien und bei der Führung eines Verbandes (DSJ 1990-97) mit und Jürgen Dammann kehrt auf den Posten des Referenten für Datenverarbeitung zurück. Bestätigt wurden Reinhold Kasper (Sportdirektor), Norbert Heymann (Öffentlichkeitsarbeit), Dr. Hans-Jürgen Hochgräfe (Aus- und Weiterbildung) und Joachim Fleischer (Wertungsfragen). Der Jurist Ernst Bedau wechselt von Breiten- und Freizeitsport zum Bundesrechtsberater. Abgewählt wurde Klaus Gohde für seine umfangreiche, aber nicht immer konfliktfreie Arbeit im Seniorenschach. Für ihn wählte man mit Hajo Gnirk einen erfahrenen Funktionär aus Württemberg. Nachdem dieser allerdings die persönlichen Retourkutschen rund um die Abwahl mitbekommen hatte, stellte er das Amt zur Verfügung. In diesem boomenden Bereich ist die Situation nun völlig unbefriedigend, ebenso wie bei den unbesetzten Referaten für Frauenschach bzw. Breiten- und Freizeitsport.

 

DSB-Führungsspitze

Drei unbesetzte Referentenposten verdeutlichen eine generelle Unzufriedenheit vieler Funktionäre und das geringe Vertrauen, mit der DSB-Führungsspitze innovative Ideen umsetzen zu können. Foto: Harald Fietz

 

   Mit Spannung wendete man sich kurz vor 22 Uhr der Ausländerregelung zu. Allerdings galt es nur noch, eine Variante zu erörtern, nachdem der Thüringer Schachbund seinen Antrag (51% deutsche Spieler pro Team) zugunsten des sächsischen Vorschlags (die Hälfte des Teams mit deutschen Spielern) zurückgezogen hatte. Ohnehin scheint nach den juristischen Stellungnahmen vor dem Kongress Einigkeit zu herrschen, dass die Ausländerbeschränkung nicht rechtskonform mit europäischen Regelungen geht. Die Juristen vor Ort konnten mit funkelnden Augen die Köpfe zum Austausch neuer Rechtsquellen zusammenstecken. Der aus dem Präsidium ausgeschiedene Rechtsberater Wolfgang Unzicker und der aus Berlin angereiste Rechtsanwalt Rainer Polzin, Mannschaftsführer beim Bundesligisten Neukölln, berufen sich nun auch auf das Anfang Mai 2003 ergangene Urteil im Fall des slowakischen Handballspielers Kolpak, der gegen die Beschränkung auf zwei Nicht-EU-Ausländern klagte und Recht bekam. Unzicker verweist in seinem Gutachten für den DSB darauf, dass sich im Schachsport die unterschiedliche Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit ebenfalls verbietet, "wobei es im Einzelnen unerheblich sein dürfte, ob im Falle der Schach-Bundesliga ein Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit vorliegt." Viele seiner Argumente für nationale und internationale Wettbewerbe von Vereinsmannschaften stammen aus dem Buch "EU-Recht und Sport" von Prof. Dr. Rudolf Streinz.

   Vor diesem weitgehend ausgeloteten Hintergrund kam es in Cottbus lediglich zu kurzen Stellungnahmen beider Positionen und der Verweisung an den Bundesliga-Ausschuss. Der vertritt allerdings nur die 1. Herren-Bundesliga und wird am 30./31. August in Kassel u.a. dazu tagen. Einiges ist in der Diskussion: Ein Modell wäre beispielsweise ein offener Kadar mit mindestens acht Deutschen (u.a. mit einer entsprechenden Mindestspielstärke). Der Kreuzberger Vorsitzende Norbert Sprotte und Polzin schlugen vor, für die bestplatzierte Mannschaft mit fünf deutschen Spielern den zusätzlichen Titel "Bestes Deutsches Team" zu vergeben. Außerdem regen sie u.a. an, Doppelspielberechtigungen für Spieler unter 22 Jahren einzuführen, Nachwuchsförderung der Bundesligavereine jährlich zu bilanzieren und die Ausländerklausel durch die Gleichstellung von EU-Bürgern und Spielern aus assoziierten Staaten weit zu öffnen. Kurzum: Wie den sächsischen und thüringischen Antragsstellern bereits in den Cottbuser Tagen in Flurgesprächen gewahr wurde, ist es wahrscheinlich, dass ihr Vorstoß aufgrund der Rechtslage in absehbarer Zeit ein Begräbnis erster Klasse bekommt. Auch die Überprüfung der gegenwärtigen Praxis ist erforderlich. Klar ist, dass die Regelung sukzessive für alle Ligen gelten muss. Hier wird der DSB in Person des neuen Rechtsberaters Bedau gefragt sein.

 

Sachsens Schachpräsident Siegfried Müller (links) und sein Thüringer Kollege Joachim Brüggemann

Die Ausländerreglung bröckelt. Sachsens Schachpräsident Siegfried Müller (links) und sein Thüringer Kollege Joachim Brüggemann wissen, dass die Chancen für die Klausel angesichts der europäischen Gesetzgebung schwinden. Foto: Harald Fietz

 

   Als letzter brisanter Punkt blieb in der Schwüle des Abends die Beitragserhöhung. Erschöpft von der ausufernden Debatten schien die Abstimmung fast willenlos über die Bühne zu gehen - nur Thüringen und Sachsen widersprachen deutlich. Angesichts bevorstehender Kürzungen durch das Bundesinnenministerium von ca. 16.000 Euro jährlich und der Anschaffung einer neuzuprogrammierenden Elo-Base kam man nicht um die Ein-Euro-Beitragserhöhung herum. Mit 156 Ja- und 48 Nein-Stimmen passierte das sonst so heikle Finanzthema die Bundesversammlung glatt.

   Nach dem turbulenten 13-Stunden-Sitzungsmarathon fällt die Bilanz ernüchternd aus. Der vermeintlich große Wurf war sicher nicht der optimale Wurf und ging daher weit daneben. Im neuen Anlauf wird darauf zu achten sein, dass im verkleinerten Präsidium ein Zukunftsmotor wie die DSJ Platz findet. Ideal wäre es, für dieses Gremium Personal aus Politik oder Wirtschaft zu finden, denn der Präsident und seine Stellvertreter werden Fähigkeiten haben müssen, sich mit ausreichend Management- und Sachwissen in mehrere Fachgebiete einzuarbeiten und zusammen mit ihren Referenten bessere Qualitätssicherung zu gewährleisten. Was das erweiterte Präsidium betrifft, so ist auf eine stärkere Balance zwischen Landesverbänden und Präsidium zu bedenken. Um ein numerisches Gleichgewicht zu erreichen, könnten z.B. sechs Vertreter der Landesverbände sechs Präsidiumsmitgliedern gegenüberstehen. Die Entsendung der Landesvertreter könnte durch Wahl auf dem Bundeskongress erfolgen, was zudem ihr Mandat für die Zeit zwischen den zweijährigen DSB-Kongressen legitimieren würde. Generell sollte aus den bisherigen Reformwirren die Lehre gezogen werden, dass personelle Veränderungen auf keiner Ebene tabu sind. Doch wer traut sich einen "Wandel der Mentalität" zu?

 

 

(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 12/2003, S. 330-331)


zur Figo