Schachgedanken im CasinoSchweiz gewinnt Länderkampf gegen Deutschland mit 5:3von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Oktober 2002 |
Schach kennt Persönlichkeiten, aber wie formt Schach die Persönlichkeit? Diese nicht so einfache Frage veranlasste Lothar Schmid, den bekannten Großmeister, Schiedsrichter und Schachbuchsammler, beim September-Treff der Lasker-Gesellschaft am Rande des Länderkampfs Deutschland-Schweiz zu einer Rückschau auf seine Jugend: "Wenn wir in einer Partie nur noch die Könige auf dem Brett hatten, versuchte ich trotzdem, meinen Jugendfreund in die Ecke zu drängen, aber er entkam immer wieder. So erschlossen wir uns, die Partie durch Muskelkraft mit einem Ringkampf unter dem Tisch zu entscheiden. Mal gewann der eine, mal der andere." Schach mit Freude gespielt ist - bei verteilten Kräften - eben oftmals eine Suche nach der letzten Ressource einer Stellung, ein Ausloten kleiner Nuancen. Hier schult man - für den Schachsport und das Leben - Willen und Ausdauer, um Findiges - manchmal Unerwartetes - zu entdecken.
Am 14. und 15. September in Berlin galt diese Devise auch für die beiden deutschen Spieler Christopher Lutz und Arkadij Naiditsch gegen die Schweizer Viktor Kortschnoi und Yannick Pelletier. Die Ausgangslage des von der Züricher Bank Hofmann mit logistischer Unterstützung des Exzelsior Verlags und der Firma ChessBase gesponserten Vergleichs im Vorfeld der Schacholympiade war denkbar ungünstig: 0,5:3,5 lagen die deutsche Nummer eins und neun gegen die schweizerische Nummer eins und drei zurück. Nach Wertungspunkten waren die Deutschen (2655 und 2581) zwar gegenüber den Vertretern aus dem Alpenland favorisiert (2626 und 2571), doch in der Bankenmetropole Zürich ging fast alles daneben. Insbesondere der jüngste deutsche Großmeister musste zwei schmerzhafte Niederlagen verkraften. Der alte Haudegen Viktor Kortschnoi exerzierte beim Heimspiel seinen offenen Spanier wie zu Zeiten der großen Duelle mit Anatoli Karpow.
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Partie Naiditsch,A - Kortschnoi,V [C82]
1.e4
e5
2.Sf3
Sc6
3.Lb5
Sf6
4.0-0
Sxe4
5.d4
a6
6.La4
b5
7.Lb3
d5
8.dxe5
Le6
9.Sbd2
Sc5
10.c3
Lg4
11.Lc2
Le7
12.Te1
0-0
13.Sb3
Se6
14.Sbd4 [In der
modernen Turnierarena wird fast ausschließlich
14.Dd3
g6
15.Lh6 mit den Optionen
15...Te8
(15...Sg7
gespielt.) ] |
Als am Samstag darauf das bundesrepublikanische Team im 37. Stock des "Forum Hotels" am Alexanderplatz im Casino Berlin die Aufholjagd startete, wunderte sich zunächst mancher über das Publikum, denn selten haben so viele Schachfreunde eine Krawatte umgebunden oder zumindest ein Jackett angehabt. Einlassregistrierung und Vorankündigungen mit der Aufforderung um "entsprechende Garderobe" bewirkten, dass sich die Schachfans der Hauptstadt seriös in den neonblauen Räumlichkeiten der Glücksspielstätte bewegten. Hier regiert sonst das Zufallselement, doch damit haben die Könner der 64 Felder nichts am Hut. "Schach fördert den strukturierten Umgang mit neuen Problemen. Schachspieler sind es gewohnt, die Angst vor Herausforderungen zu bewältigen und sie entwickeln ein Gefühl für den Faktor Zeit. Aufgaben zu bestimmten Fristen zur Entscheidung zu bringen, ist ihnen eigen", meinte bei der abendlichen Gesprächsrunde der Historiker und FIDE-Meister Ulrich Sieg über Persönlichkeitsmerkmale der Denkkünstler.
Mit Erfolg kniete sich die deutsche Nummer eins, Christopher Lutz, in seine Partie gegen Kortschnoi
In gewissem Sinne traf dies auf die Rückbegegnung Lutz gegen Kortschnoi zu. Da die deutsche Seite am ersten Tag in Berlin zweimal Weiß hatte, musste etwas gelingen. Mit der armenischen Variante im Franzosen überraschte der mit 71 Jahren immer noch konditionsstark wirkende Senior seinen Berufskollegen. Doch dann wagte er sich mit seinem d-Bauer zu weit nach vorne; für das neue Konzept fand Lutz im klassischen Zeitrahmen die bessere Lösung.
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Partie Lutz,C - Kortchnoi,V [C17]
1.e4
e6
2.d4
d5
3.Sc3
Lb4
4.e5
c5
5.a3
La5
6.b4
cxd4
7.Dg4
Se7
8.bxa5
dxc3
9.Dxg7
Tg8
10.Dxh7
Sbc6
11.f4
Dxa5
12.Sf3
Ld7
13.Tb1
0-0-0
14.Dd3
d4
15.g3 Ein Zug, der
vielfach empohlen wurde, aber selten zur Anwendung kam. Kortschnoi fiel in
einen zwanzigminütigen "Dämmerzustand". Die disziplinierten Zuschauer
verhielten sich ruhig und einzig das Surren der Klimaanlage untermalte die
erwartungsvolle Spannung. |
Damit hatte Lutz, der im Oktober dem Einstein-Weltmeister Wladimir Kramnik bei seinem Computer-Match gegen Fritz in Bahrain sekundieren wird, den ersten vollen Punkt für die deutsche Seite erzielt. Leider konnte Naiditsch trotz Stellungsvorteilen nicht nachziehen und musste sich gegen den in Zürich zweimal siegreichen Pelletier mit dem halben Punkt begnügen. Vor der Schlussrunde stand es somit 2:4 und auf das Jungtalent aus Dortmund wartete am nächsten Tag "Viktor der Schreckliche". Doch ein solcher Brocken ist genau das Richtige, um sein Schachniveau zu steigern, wie Schmid am Vorabend zu bedenken gab: "Der steinige Weg ist gut für den Charakter - und ohne Charakter geht es auch beim Schach nicht." Verpasste Chancen oder Niederlagen zwingen zur Selbstkritik und zu noch stärkeren Anstrengungen - und in dieser Hinsicht kann man dem Schüler keinen Vorwurf machen.
Die Partie Kortschnoi gegen Naiditsch wurde die längste Begegnung der Berliner Halbzeit
Akribisch rechnete er am Brett, seine Vorbereitung war auch nicht übel. Wer kann schon von sich sagen, die erfahrene Schachlegende früh zum Vertiefen in die Stellung zu zwingen? Die mit fünfeinhalb Stunden längste Partie brachte viele Wendepunkte.
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Partie Korchnoi,V - Naiditsch,A [E38]
1.d4
Sf6
2.c4
e6
3.Sc3
Lb4
4.Dc2
c5
5.dxc5
Dc7 Ein selten gespielter
Aufbau mit der Dame auf c7. |
Am Nachbarbrett kämpften Lutz und Pelletier zudem einen besonderen Wettstreit aus, da der beste Einzelspieler zu ermitteln war. Dem 26-jährigen Schweizer, der für Werder Bremen in der Bundesliga spielt, genügte ein Remis; der Spitzenspieler von Köln-Porz hingegen musste gewinnen, um einen Tie-Break zu erzwingen. Wie oft will man ein Remis holen, begibt sich aber mit Spielen auf Remis auf den falschen Weg? Eine Situation, die das Publikum im Analyseraum besonders faszinierte. Das kongeniale Kommentatorenduo mit Bundestrainer Uwe Bönsch und dem Lokalmatador Robert Rabiega wusste auch diese Thematik verständlich, witzig und auf jede Frage eingehend zu beantworten. In der stets gut besuchten Ecke mit den Demonstrationsbrettern verweilte sogar Personal der am frühen Nachmittag noch nicht ausgelasteten Roulettetische und der Bar.
Schach im neonblauen Casino: Lutz erklärt dem wissbegierigen Publikum seine Schlußrundenpartie gegen Pelletier (ganz rechts), in der Mitte lauscht Robert Rabiega
Kenntnis von den Ideen hinter den Eröffnungen ist für besagte Gratwanderung unabdingbar, zumal wenn Möglichkeiten der Übergänge zwischen Spielsystemen bestehen. Breites Schachwissen und ständige Bereitschaft zum Nachbessern mit aktuellsten Partien aus dem Internet müssen auf diesem Level sein.
Bönsch führte diese Arbeitsphilosophie für alle aufstrebenden Schachspieler bei der Diskussionsrunde am Vorabend als persönlichkeitsbildende Motivationen an. Leider können diese Einstellungen in Deutschland noch zu wenig - gerade an die Jugend - vermittelt werden. Selbst wenn es Schulschach gibt, dann findet dieser Unterricht am Nachmittag statt, nachdem die Schüler bereits sechs oder sieben Stunden in ihrer Aufmerksamkeit gefordert wurden. Ein kleiner Lichtblick ist das Sportgymnasium in Dresden, wo u.a. die jüngste deutsche Großmeisterin Elisabeth Pähtz oder die Nachwuchshoffung Elena Winkelmann auch am Vormittag in ihrem Lieblingsfach unterrichtet werden. Mit einer Sondergenehmigung des sächsischen Kultusministerium kam diese Lehrplanänderung zustande - Schach kann sogar als Prüfungsthema gewählt werden. Den Test in Eröffnungskompetenz bestanden in 127 Meter Höhe auf Höhe des Berliner Fernsehturms die Nationalspieler - zumal beide Großmeister die Systeme mit beiden Farben kennen. Obwohl es letztlich nur eine Punkteteilung wurde, taugte diese Begegnung trefflich, dem Amateur die Zusammenhänge zwischen benachbarten Abspielen zu zeigen.
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Partie Pelletier,Y - Lutz,C [E17]
1.Sf3
Sf6
2.c4
e6
3.Sc3
c5
4.g3
b6
5.Lg2
Lb7
6.0-0
Le7
7.Te1
d5
8.cxd5
exd5
9.d4
0-0 Im Analyseraum
waren sich Uwe Bönsch und Robert Rabiega einig, dass der Turmzug in
das Igel-Konzept, nicht aber in die entstehende damenindische Struktur passt.
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Nachdem das Match mit 5:3 zugunsten der Gäste ausging und resümiert wurde, dass keiner Nation ein voller Auswärtspunkte gelang, setzten sich noch die jeweilige Nummer eins zum Tiebreak in der Einzelwertung. Hier behielt Lutz mit 1,5:0,5 gegen Kortschnoi die Oberhand. Yannik Pelletier hatte mit drei Punkten das beste Einzelresultat. Lutz und Kortschnoi verbuchten jeweils zwei Punkte und Jungtalent Naditsch brachte es auf einen Punkt.
Yannik Pelletier errang die meisten Punkte beim Länderkampferfolg der Schweiz
Doch dieses Resultat war weniger bedeutend, als der Umstand, dass jede Begegnung ausgekämpft wurde. Solche gleichgesonnenen Einstellungen fördern nicht nur die Spielkultur, sondern erhalten die Kultur des Spiels.
Paul Werner Wagner, der Vorsitzende der Lasker-Gesellschaft, freut sich seine Mitglieder Edith Keller-Hermann und Lothar Schmid begrüßen zu dürfen
Und hierzu gehören auch Freundschaften zwischen Persönlichkeiten, wie Lothar Schmid, der am Rande des Lasker-Treffs seine langjährige Bekannte Edith Keller-Hermann umarmen konnte, hervorhob. Mit der großen, alten Dame des deutschen Frauenschachs, die zehnmal den deutschen Meistertitel errang und zwischen 1949 und 1959 bei Qualifikationsturnieren zur Frauenweltmeisterschaft vordere Plätze belegte, und ihrem Bruder pflegte er in den 40er Jahren im heimatlichen Dresden-Radebeul die Kräfte zu messen und auch der Umstand der deutschen Teilung hat die Gemeinsamkeiten nicht verschüttet. "Höchstes Glück der Erdenkinder, sei nur die Persönlichkeit", schrieb Goethe in seinem "West-östlichen Divan". Eine weithin bekannte Person, der Bundesminister des Inneren Otto Schily, hätte sicher zugestimmt, wäre er nicht wahlkampfgestresst verhindert gewesen. Dafür wurde er aber kurzentschlossen Mitglieder im Verein zur Förderung des Erbes des einzigen deutschen Weltmeisters. Das Schach kann jeden persönlichen Einsatz brauchen, denn seine Lobby muss noch weiter wachsen.
(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 18 / 2002, S. 489-491)