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Die verrückteste Stellung der Welt?

Retroschach

von Helmut Conrady, November 2002
zuerst erschienen in der Rochade Europa 11/2002

zur Schachrubrik Extra

 

   Folgende Position stammt von Nikita Plaksin (Shakhmaty v SSSR, Juli 1980):

 

Retroschach

Weiß am Zug hält remis!

   Seit ich sie in dem Buch von Tim Krabbé, "Schach-Besonderheiten" - Band 1" (Econ 1987), S. 79, vor knapp 15 Jahren zum ersten Mal gesehen habe, lässt sie mich nicht mehr los. Krabbé schreibt, man sollte dieses Puzzle gar nicht versuchen zu verstehen - "Vorsicht, Gesundheitsgefahren!" - und er habe das Ganze "einige Stunden lang betrachtet", ohne dass er "auch nur anfing, es zu verstehen." Mein Forscherdrang war daraufhin aber geweckt und immer wieder während der Jahre habe ich mich daran gemacht, dem Verstehen der recht komplizierten Lösung näher zu kommen. Auch in der Originalquelle (s.o., S. 30) sind nämlich nur die bloßen Züge ohne weitere Erklärungen angegeben. Es füllten sich schließlich Zettel um Zettel mit Notizen, aber ich kam immer wieder nur schleppend vorwärts. Schon vor längerem bekam ich dann einen kurz gefassten Entwurf zur Lösung von Harm Benak in die Hand (später abgedruckt in EBUR, Nr. 3, Sept. 1999), der sich als noch überarbeitungswürdig erwies und den mir Eric van Reem dankenswerterweise aus dem Niederländischen übersetzt hat. Letzten Monat begegneten mir ähnliche Probleme Plaksins anlässlich einer Buchrezension für die Rochade Europa wieder, was meine Beschäftigung damit wieder aufleben ließ. Meine eigenen Aufzeichnungen, zusammen mit dem Textentwurf Benaks und Anmerkungen von Eric van Reem, sind Grundlage der folgenden Zeilen.

Die Lösung gibt es weiter unten ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Die Stellung

   Die Diagrammposition zeigt eine Studie mit der Forderung "Weiß am Zug hält remis". Das muss ungläubiges Erstaunen auslösen. Weiß hat 2 Figuren und einen Bauern weniger, keinerlei Drohungen gegen den gegnerischen König und ein eventuelles Patt, sonst oft die einzige Rettung in Studien, ist weit und breit nicht in Sicht. Noch größer wird das Erstaunen, wenn man sich den "Lösungsweg" des Autors vor Augen führt. Er besteht aus exakt einem Halbzug: 1.0-0-0. Die lange Rochade soll remis halten? Dann setzt doch 1...Da1 sofort matt! Soll das denn ein Witz sein?? Aber - jetzt kommt die geniale Idee Plaksins, die diese Stellung zu einer der unglaublichsten macht, die ich kenne. Weiß am Zug fordert remis nach der 50-Züge-Regel, indem er erklärt, die lange Rochade auszuführen!!

 

Retroschach

 

2. Retroanalytische Kompositionen

   Rochaden in Studien und Problemen sind erlaubt, wenn nicht zwingend bewiesen werden kann, dass mindestens eine der beiden Rochadefiguren schon gezogen haben muss. Wenn Weiß außerdem belegen kann, dass 50 Züge lang kein Bauer gezogen haben kein Stein geschlagen worden sein kann, dann kann er sich direkt mit seinem ersten Zug den halben Punkt gutschreiben!

   Diese Studie gehört somit zu den retro-analytischen ("rückwärts gewandten") Kompositionen: Man muss die Vorgeschichte der "Partie" erforschen, um Aussagen über die Diagrammstellung treffen zu können. Ich will nun ausführlich und Schritt für Schritt versuchen, die Aufgabe Plaksins zu erläutern. Zunächst gilt es die Abhängigkeiten der Steine zu verstehen, um festzustellen, an welcher Stelle der "Geschichte" der Partie die Zählung nach der 50-Züge-Regel begonnen haben muss. Danach soll dann das 50-zügige Manöver ohne Schlag- und Bauernzüge gezeigt werden. Wohlgemerkt: Im Gegensatz zu Partien oder "normalen" Kompositionen, beschäftigt sich die Analyse von retrograden Problemen mit der "Vergangenheit" der Stellung und nicht mit dem Fortschritt von der Diagrammposition aus. So also auch hier! Aber erschrecken Sie bitte angesichts dieser Vorrede nicht. Ich habe mich bemüht, den Lösungsweg ausführlich und klar zu erläutern. Die mit diesem Genre vertrauteren Leser unter Ihnen mögen mir deshalb bitte die ein oder andere zusätzliche Verdeutlichung oder Wiederholung verzeihen. Wenn Sie dem Problem auf die Spur kommen und sich wie ich davon faszinieren lassen wollen, dann sollten Sie ein Schachspiel bereithalten, u.a., um sich in die unten gezeigte Hauptvariante vertiefen zu können.

 

3. Vorgeschichte der Stellung

   Schwarz hat alle seine Steine noch, Weiß hat 3 seiner Streiter, nämlich Dame, Springer und einen Bauern eingebüßt. Wenn man die schwarze Bauernstruktur genauer betrachtet, wird klar, dass alle 3 weißen Steine von Bauern geschlagen worden sein müssen, und zwar auf den Feldern b4 (Doppelbauer!), g6 und f5 (Doppelbauer; warum nicht auf f6, wird weiter unten erläutert). Nur am Rande: Der weiße a-Bauer kann nicht auf b4 geschlagen worden sein (er hat ja nichts geschlagen und kann folglich nie auf der b-Linie gestanden haben), sondern er muss sich auf a8 verwandelt haben und wurde dann in seiner neuen Eigenschaft auf einem der genannten Felder geschlagen.

 

Retroschach

 

Wie kamen der schwarze Läufer von c8 nach g8 und der weiße Springer nach h8?
 

 
   Damit wird auch klar, dass die schwarzen Schlagzüge nicht (die theoretisch möglichen) g7xf6 und h7xg6 gewesen sein können. Denn, würde letzterer Schlagzug stimmen (h7xg6), dann hätte der schwarze Läufer nie über h7, was ja der einzige Zugang dazu ist, auf g8 kommen können. Es wird damit auch klar, dass g7-g6 der letzte schwarze Zug gewesen sein muss, der für die Zählung nach der 50-Züge-Regel von Bedeutung ist.

 

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Wie kam nun der andere schwarze Läufer von f8 nach g3?
 

 
   Wir haben nun einiges über die Stellung herausgefunden. Warum aber ist der Bauernzug nach f4 so wichtig? Hier die Erklärung: Weiß darf noch rochieren, deshalb kam der weiße Turm f8 nicht über den Damenflügel, sondern muss via f3 nach f8 gelangt sein. Etwas anderes lässt die weiße Bauernstruktur nicht zu. Überprüfen Sie es ruhig! Die f-Linie muss also das Tor nach draußen gewesen sein. Aber der f-Bauer muss dann bereits auf f4 gestanden haben, sonst hätte - wie gesagt - der Turm ja nie sein Lager verlassen können. So weit, so gut. Wir wissen jetzt, was sich lange in der Vergangenheit der obigen Diagrammstellung zugetragen haben muss. Aber - wann kommen die 50 Züge ohne Bauernbewegung oder Schlagen ins Spiel? Jetzt!

 

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4. Das 50-Züge-Manöver

   Der weiße Turm musste also von h1 über f3 nach f8. Der weiße Königsturm und die beiden schwarzen Türme mussten dabei aneinander vorbei. Die schwarzen Türme konnten aufgrund der Stellungsstruktur (vertiefen Sie sich ruhig ein wenig darin) aber nur auf der h-Linie eindringen, der weiße Turm konnte nur über die gleiche Linie auf f8 kommen. Die Türme mussten sich also alle auf der h-Linie, der 8. Reihe und der a-Linie aneinander vorbeiquetschen. (Betrachten Sie sich dazu ruhig die schwarze Bauernstruktur genauer!) Das geht nur, wenn die schwarzen Türme bis weit auf den weißen Damenflügel ausweichen - und das Ganze dauert exakt mindestens 50 Züge! 50 Züge vor der obigen Diagrammposition muss die Stellung also ungefähr so ausgesehen haben (Plaksin hat sie in der genannten Quelle selbst so angegeben):

 










Lösung des Schachproblems

 

Nach 1.f4 kann der weiße Turm nun losziehen und sich auf die Reise machen, die ihn letztlich nach f8 führt. Dabei muss er durch die Nadelöhre, die u.a. deshalb so eng sind, weil die Eckspringer ihren Platz nicht verlassen können, auf h8 und a8. Natürlich sind auch mehr als 50 Züge denkbar, da die Steine auch Pendelmanöver ausführen könnten. Aber der nun gezeigte Weg ist der schnellste, denn jeder einzelne Zug leistet etwas für das Umgehungsmanöver der Türme bzw. hilft anschließend den schwarzen Steinen, in ihre Positionen vom ersten Diagramm zu kommen. Zu beachten ist in der Stellung, dass die schwarzen Türme schon so platziert sind, dass sie das ganze Manöver optimal unterstützen. Stünden sie woanders, dann würde es eben noch länger als 50 Züge dauern! Aber nun - sehen Sie selbst: 1.f4 Damit beginnt nun die Zählung nach der Remisregel. 1...Dd6 2.Tf3 De6 3.Tg3 Dd6 4.Tg5 De6 5.Th5 Dd6 6.Th7 De6 7.Tg7 Lh7 8.Tg8 Dd6 9.Tb8 De6 10.Tb7 Dd6 11.Lb8 De6 12.Ta7 De5 13.Ta3 Dd4 14.Tb3 Der weiße Turm hat nun seine "Hinreise" beendet und die schwarzen Türme können, zunächst über die a-Linie, an ihm vorbei. 14...Ta7 15.Ld5 Tb7 16.La7 Tb8 17.Lc4 Tg8 18.Lb8 Ta2 19.Ld5 Ta7 20.Tba3 Tb7 21.La7 Tbb8 22.Lc4 Tg7 23.Ld5 Lg8 24.Lc4 Th7 25.Ld5 Th5 26.Lc4 Lh7 27.Ld5 Tg8 28.Lb8 Tg7 29.Ta7 Lg8 30.Tb7 Tgh7 31.La7 Tg5 32.Tb8 Thh5 33.Lb3 Lh7 34.Tg8 Tg3 35.Tg7 Lg8 36.Th7 Tf3 Der weiße Turm muss nun dem schwarzen König Zeit geben, über die 8. Reihe bis b7 zu laufen, wo er ja in der Ausgangsstellung seinen Platz hat. Erst kann sich der Turm auf die letzte Etappe seiner Reise, die ihn nach f8 führen wird, machen. 37.Th6 Kg7 38.Th7+ Kf8 39.Tg7 Ke8 40.Lc4 Kd8 41.Lb8 Kc8 42.Lb3 Kb7 43.Lc4 Lh7 44.Tg8 Tf2 45.Tf8 Lg8 46.Lb3 Tg5 47.La2 Tg3 48.Lc4 Tgf3 49.Lb3 Lg3 50.La4 Dg7 und nun 51.0-0-0 und remis! Exakt 99 Halbzüge dauerte die Phase der Turmmanöver und die anschließende Platzierung der anderen Steine. 100%ig exakt berechnet!

 

   Könnten denn die beiden weißen Bauernzüge h2-h3 und e2-e3 nicht später als f2(f3)-f4 erfolgt sein? Der Zug h2-h3 könnte nachher gewesen sein, vorher muss der schwarze Läufer dann aber auf g3 gestanden haben (siehe oben) und ein Stein hätte das Schach mit dem Dazwischenstellen auf f2 parieren müssen. Der weiße König darf ja in der Stellung vom ersten Diagramm noch rochieren, er kann also hier nicht gezogen haben. Das Feld f2 muss der weiße Königsturm aber unbedingt überqueren, um sein Lager verlassen zu können. Also muss der Läufer mindestens zu diesem Zeitpunkt ausgewichen sein, das geht nur auf h2 und damit nur, wenn er vorher h2-h3 gezogen hat! Wäre e2-e3 später als f4 erfolgt, dann hätten sich der Läufer f1 und der Turm h1 erst später entwickeln können und das Ganze hätte noch einige Züge mehr gedauert.

   Man kann also festhalten: Es ist nicht genau zu sagen, welcher weiße Bauernzug der letzte war. Aber die Bauern müssen bereits auf e3, f4 und h3 gestanden haben, bevor der weiße Turm auf f3, womit er seinen 50-zügigen Ausflug begann, ziehen konnte! Warum das noch einmal betont wird? Ganz einfach: Es sind alle möglichen weißen Züge, nach denen die Zählung gemäß der 50-Züge-Remisregel von neuem beginnen könnte! Den Bauern b5 habe ich dabei nicht erwähnt. Er muss aber schon sehr lange dort gestanden haben, nämlich schon vor dem schwarzen Schlagzug a5xb4.

 

5. Der Schlüsselzug

   Und warum muss Weiß im ersten Zug unbedingt die Rochade ausführen? Er könnte doch einen beliebigen anderen Zug machen? Nein. Indem er nämlich 1.0-0-0 zieht, demonstriert er, dass der Turm a1 und der König e1 vorher noch nicht gezogen haben. Das ist wichtig, denn hätten sie gezogen, dann wäre die Grundreihe des Weißen als Manövrierraum für die Türme frei gewesen, sie hätten sich in weniger als 50 Zügen aneinander vorbeischlängeln können und die Studie wäre dann inkorrekt! Erst indem er also 1.0-0-0! zieht, ist Weiß in der Lage zu beweisen, dass 50 Züge ohne Schlag- oder Bauernzug vorangegangen sein müssen! - Fantastisch, was die Kreativität von Schachkomponisten hervorbringen kann!

 

6. Hinweise

   Weitere Aufgaben dieser Art von Plaksin finden sich in der Zeitschrift "Problem" (Zagreb), Ausgabe 124-126 vom März 1969. Die Adresse von Tim Krabbés Webseite, auf der er seit vielen Jahren Amüsantes und Skurriles aus der Welt des Schachs zusammenträgt und die eine wahre Fundgrube ist, lautet: www.xs4all.nl/~timkr/chess/chess.html.


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