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Faszination im Pazifik Rim

von Reinald Kloska, Oktober 1995

zu den Schachtexten


   Viele wissen schon, daß mein diesjähriges Urlaubsziel die Kanadische Westküste in der Nähe von Vancouver war. Bevor man allerdings von Vancouver aus an das offene Meer gelangt, muß man Vancouver Island durchqueren. Dies ist zwar, wie der Name bereits sagt, nur eine Insel, doch was für eine! Etwa 200 km Reiseweg über Berge und durch Täler muß man in Kauf nehmen, um in der Nähe von Ucluelet den Pacific Rim National Park bestaunen zu können.

   Nachdem man sein Vehikel auf großzügig angelegten Parkplätzen verstaut hat, folgt ein kurzer Fußweg durch den subtropischen Regenwald des Westens. Helmlock-Tannen lassen die Ferne des Himmels vergessen. Zwischen Boden und Baumkronen grünt es in allen Schattierungen, Sonne dringt nicht bis zu uns vor. Mit einem Schlag lichtet sich das Grün und wir stehen an einem bis zur Ewigkeit reichenden Sandstrand. Der ewige Westwind füllt die Luft mit Myriaden von Tautropfen, die der Ozean bereit war, zu verschenken. Donnerndes Rauschen lassen eine gewaltige Brandung erahnen, die durch die Dichte des Nebels kaum zu erkennen scheint. Nebenher lautlose Stille, kein Auto, kein Mensch, kein Vogel zu hören - mystische Stimmung.

   Auf wattweichem Boden wenden wir uns gen Norden, links die brausende Brandung, rechts mannshohe Berge angeschwemmten Treibguts. Stimmen, durch das Tönen der Brandung nur noch Fetzen einer Unterhaltung, dringen an unser Ohr. In einer Art windgeschützten Tal von Treibholz erspähen wir einige um einen notdürftig hergerichteten Tisch sitzende Gestalten. Auf dem Tisch ein übergroßes Schachspiel, noch in der Ausgangsstellung. Vor den weißen Steinen sitzt, nein, kauert ein Männlein höchsten Alters mit weißen Haaren und großem, noch dunklem Schnauzer. Hohe Geheimratsecken und tiefe Falten auf beiden Nasenseiten bis hinunter zu den Mundwinkeln lassen sein Gesicht streng erscheinen.

   Ihm gegenüber sitzt ein in die Jahre gekommener Grandseigneur. Tadellos von den Haarspitzen bis zu den, ich denke kubanischen, Lackschuhen. Der Herr an der einen Brettseite scheint ebenso gepflegt, doch verbreiten seine Gesichtszüge Unbehagen. Strenge Augen, streng geschnittener Schnauzer, strenger Seitenscheitel. Die Überraschung ihm gegenüber.

   Auf einer selbstgezimmerten Bank aus dem Holz der kanadischen Date, ein Knirps, ein Dreikäsehoch. Ich schätzte ihn auf gerade mal fünf Jahre, aber sein Mundwerk stand nicht still. Schon vor dem ersten Zug, zu dem der Weißhaarige gerade ausholen wollte, griff der Knabe in eine Lade, die an der Bank unterhalb der Sitzfläche verankert war, kramte in Tausenden von Zetteln und las den einen oder anderen vor. Wir konnten nicht alles verstehen, doch waren sowohl alle möglichen ersten Züge des weißen dabei, als auch unverständliche Dinge wie A34 oder D10.

   In seiner Konzentration wohl unterbrochen herrschte Faltengesicht den Buben an: "Fritz, Ruhe jetzt!“. Der kleine Vorlaute auf seiner Datenbank hörte also auf den Namen Fritz. Endlich kam es zur Ausführung des ersten weißen Zuges:









Stellung nach:

1.Sf3 Und trotz des dauernden Geplappers des Jungen entgegnete der andere 1...Sf6 2.g3 g6 3.Lg2 Lg7 4.0-0 0-0 5.d4 Dies alles geschah sehr rasch und keiner der Spieler lauschte den Worttiraden, die nach "Bauerneinheiten“, "Analysebrett“ oder "Rubinstein-Variante im hingerissenen Sizilianer“ klangen. Manchmal war auch ein "plus 0,02“ oder "minus 0,05“ erklungen. Gerade eben erhörten meine Lauscher: "c2c4 c7c5 d2d4 c5d4 b2b3 b8c6 f3d4 d7d5“. Der an den schwarzen Steinen, der anscheinend auf den recht deutsch klingenden Vornamen Josef hörte, beeindruckte all dies wenig. Er zog 5...d6 6.Te1 c6 Zu fast jedem Zug hatte der Kleine, von der aus meiner Sicht an der rechten Brettseite sitzend, etwas zu sagen, doch keiner schien ihm richtig zuzuhören. Alles was er sagte, las er von seinen Zetteln in der Lade unterhalb der Sitzfläche der Bank aus Datenholz ab. Eigene, nicht abgelesene Sätze oder Worte brachte er nicht hervor. 7.c3 Dc7 8.e4 e5 9.Dc2 Zu Lg5 riet ein Zettel des Kleinen dem Weißen, dem Faltengesicht oder Emmy, wie ihn die anderen nannten. An den Nachnamen des anderen erinnere ich mich jetzt auch wieder, Whitehead, Josef Whitehead. Welch unglücklich klingenden Namen gaben ihm seine Eltern! 9... Lg4 10.Sbd2 Sbd7 Erstmals sah ich den wortkargen Gegenüber an. Er trank mehrere Schlucke aus einer Flasche Brandy, mir schienen seine Augen bereits ein wenig gerötet. Al nannten sie ihn, Al Jeckin. 11.h3 Lxf3 12.Sxf3 c5 13.dxe5 Al bemängelte mit lallender Stimme diesen Zug und meinte, daß d4d5 b7b5 c1g5 a7a6 b2b3 f8e8 a2a3 a8b8 besser gewesen wäre. Josef zuckte nur nonchalant mit den Schultern und erwiderte 13...dxe5 14.Lg5 h6 15.Ld2 Tfd8 Emmy murmelte etwas wie "lieber den Läufer zurück, als zuviel Abtausch. Kein Remis!“. 16.Tad1 c4 17.Lf1 b5 18.b4 Sb6 19.Dc1 Kh7 20.g4 Emmy, mit Nachnamen Las-Kerry, nutzte die Gunst der Stunde. Nicht gute Züge seien gefragt, vielmehr solche, die den Gegenüber Bedenkzeit kosten, ihm unangenehm sind. 20...Sfd7 21.h4 Sf8 22.Le3 Sa4 23.Dc2 Vorlaut wieder der Kleine: "Warum nicht g4g5 h6g5 f4g5 h7g8 c1c2 f7f6 g5f3 a4b6?“ 23...Se6 24.Td5 Txd5 25.exd5 Sf4 "Niemals Remis“ tönte der Weiße wiederum und zog 26.h5 Sxd5 27.Sh4 e4 Fritzchen konnte nicht umhin, 3476 Zettel zu durchwühlen, ehe er diesen Zug mit finsterer Mine und Kopfschütteln als falsch bezeichnete. Einzig richtig sei c7d6 f1c4 b5c4 c2a4 d5c3, was mindestens +0,88 Bauerneinheiten zugunsten von Josef sein sollten. 28.Dxe4 Und weil der Datenbankknabe keinen passenden Zettel fand, meldete sich Al wieder. Er pfropfte die Flasche Brandy zu und meinte: "Kannnse auch auf g6 nehmen! Kö-brrrrrps-schulligung, König inne Ecke un Bauer nnn ... nnnnn .... nimmmmd weiter aufffff7! Dann nnn ... nimmmd schwarss auf c3 ... aber mit Schbri... Schbrringa vonn a4. Dann kannse h4f5 machn un schtehst gud!“ Al Jeckin wandte sich nun wieder seinem Brandy zu. 28...Saxc3 29.hxg6+ Kg8 30.gxf7+ Trotz rauschender Brandung und gebanntem Starren auf das skurrile Treiben in dieser Treibholzhöhle, daß auch e4f3 f7g6 h4g6 möglich gewesen wäre, auch wenn dies den Weißen nicht viel weiter gebracht hätte. 30...Dxf7 31.Dh1 Te8 32.Sf5 Dg6 33.Sxg7 Mit steinernem Gesicht von Emmy Las-Kerry gezogen. So wie er dasitzt, glaubt man ihm jeden Zug. Auch Josef Whitehead, bereits knapp an Bedenkzeit, scheint ihm mittlerweile jeden Zug ungeprüft abzunehmen. Wieso sonst entgegnete er nicht Dg6xg4? 33...Dxg7 34.Dh5 Sf6 35.Dc5 Dxg4+ Um den Weißen scheint es geschehen. Bewundernswert, wie Emmy jeden Rückschlag hinnimmt. Es scheint, er sei überhaupt nicht an dem Spiel beteiligt. Mittlerweile hat sich die aufbrausende Gischt bis in die letzen Winkel meiner Kleidung vorgearbeitet. Der dauerhafte, pfeifende Westwind verstärkt das Gefühl innerer Kälte. Was hält mich an diesem Ort? 36.Lg2 Se2+ 37.Txe2 Es kann ja nicht mehr allzu lange dauern. Ab und zu durchdringt ein Sonnenstrahl die aufgeschäumte Feuchtigkeit. 37...Dxe2 38.Dxb5 Der kleine Bub auf seiner Bank schwieg zu diesem Zug, eigentlich erstmals in dieser Partie. Fast scheint es, als wäre sein Uhrwerk abgelaufen. Al Jeckin meldete sich wieder, doch bis auf ein Aufstoßen aus des Körpers tiefsten Regionen brachte er nichts hervor. Und ich wunderte mich, wieso der Weißhaarige nicht wenigstens Ld5+ versucht hat? Aber gleich verwarf ich diesen Gedanken in Gedenken an einen meiner bücherschreibenden Schachfreunde in der alten Welt. Hartmut, so sein Name, wäre mir, hätte ich ihm dies erzählt, wohl wie so oft über den Mund gefahren und würde mir meine Ideen mit der Andeutung einer gegnerischen Antwort in die Sinnlosigkeit entlassen. Jetzt bekam die Gischt wieder Oberhand über die Strahlen der Pazifiksonne. Kalt wehte der Wind Sandkörner über das mittlerweile gelichtete Brett. Mit noch immer korrekt sitzender Kravatte zog Josef 38...Dd1+ 39.Lf1 Dg4+ Geisterhand zog des Knaben Uhrwerk auf. Unendlich kramend und plappernd altklugte er +1,69 Bauerneinheiten. An den Zehenspitzen rieselte die salzige Nässe vermischt mit feinstem Sand bereits herunter, dennoch verweilte ich weiterhin. 40.Lg2 c3 Ein leichtes Schmunzeln ist in den Mundwinkeln unseres Grandseigneurs zu entdecken - die Zeit der raschen Züge ist enteilt. 41.f3 De6 42.Lf4 c2 All mein Hab und Gut hätte ich verwettet, daß sich Josef der Vielweiberei auf c1 hingibt, doch an merkwürdigen Orten geschehen merkwürdige Dinge. Nicht umsonst wählte Edgar Wallace für seine Stücke die einsamen Hochmoore der schottischen Gebirge. 43.Dd3 Sh5 44.Ld2 Db6+ Merkwürden beginnt das Geschehen höchstpersönlich zu ergreifen. Tc8 oder c1D waren angesagt - ich werde in der Heimat den Schachpoeten fragen. 45.Kh2 Dc7+ 46.f4 Td8 47.Ld5+ Kh8 48.Lc3+ Sg7 49.Dg6 Die halbvergischte Sonne scheint ein loherndes Feuer auf das Brett brennen zu wollen. Skurrile Rottöne vermischen sich mit Schatten der Gischtperlen zu einem Feuerwerk der Sinnesgenüsse. Steinitz hätte seine Freude gehabt, und von Bardeleben wäre wortlos aus dem Turniersaal gewichen! Doch Steinitz spielte nicht hier, und Emmy Las-Kerry beschwindelte seien Gegner. Der Knabe von der Datenbank bemerkte es bereits mit Ziehen des zwölften Zettels: d8xd5! und alles ist aus für unseren greisen Weißhaarigen mit dem noch dunklen, vollen Schnauzer. Selbst Al lallte "vorbrrrrrrps“ und meinte damit wohl "vorbei“. Nur Josef legte sein Gesicht in Gedankenfalten, starrte entsetzt zur ablaufenden Uhr und ergriff überhastet die Dame, klopfte den Bauern heraus und grollte "Schach!“. 49...Dxf4+ Erstmals schien es, als änderten sich die Gesichtszüge des Faltengesichts. Ein fast unmerkliches Zucken der Backenknochen bewirkte ein leichtes, nur Sekundenbruchteile anhaltendes Grinsen. Gelassen ergriff er den König. 50.Kh3 De3+ 51.Kh4 Und sofortiges Entsetzen! Die Gelassenheit entflog mit der Geschwindigkeit einer Schwalbe im Sturzflug, ein körperliches Zusammensacken begleitete die entarteten Gesichtszüge. Ehe jedoch ein Häuflein Elend am Boden sich bilden konnte, wuchs seine Statur nach der Entgegnung seines Gegenübers wieder. 51...Df2+ Kopfschütteln überall, selbst der Bengel las nur still seinen Zettel und schüttelte wortlos sein Haupt. Als Augen wurden glasklar und seine Stimme klang deren von Engeln gleich: "Dame nach g5 und Schach!“ 52.Kh3 Df1+ 53.Kh2 De2+ 54.Kh3 De3+ 55.Kh2 Df4+ 56.Kh3 1/2-1/2

   Wortlos luden die Spieler ihre Steine in eine Holzkiste. Das Brett wurde von Sand und Feuchtigkeit gesäubert, und sie verließen die Höhle aus Treibholz zum dichten Regenwald. Schon kurze Zeit später verlor ich sie aus den Augen. Der fünfjährige war still mit dem Aufsammeln tausender Zettel beschäftigt, die er sorgsam in seiner Datenbank verwahrte. Al genoß noch einen letzten Schluck, warf die Flasche Richtung Strand und verließ den Ort mit erstaunlich sicherem Gang. Nur noch Wind und Brandung gelangten an mein Ohr, und das eben Geschehene erschien wie ein Märchen von vor langer Zeit. Ich mußte mir einen Ruck geben, um wieder in die Gegenwart zu gelangen. Der Strand erschien mir noch einsamer als zuvor.

   Bis heute muß ich mich immer an die bizarre Gegebenheit erinnern, jedesmal noch spüre ich die Kälte der Situation. Diese Partie wurde, mit freundlicher Genehmigung des Autors, dem Buch "256 meiner glücklichsten Remisen - ein Schachbuch, das die Welt nicht braucht“ entnommen. Der Autor, die bekannteste Schachgröße zwischen Grauelsbaum und Scherzheim, hat bereits neben dieser Neuerscheinung die Werke "Remisen ohne Ende“ und "Langweilige Kurzremisen für Diabetiker“ herausgebracht. Sein neustes Werk, von Marcel Reich-Ranicki als literarisch wertvoll bezeichnet, wird im "Spiegel“ auszugsweise veröffentlicht werden. Somit ist es Reinald Kloska als einzigem gelungen, die vor Ausgelassenheit und Frohsinn glänzenden Werke eines Hartmut Metz, dem in Fachkreisen hochgeschätzten Fachbuchautor, zu übertreffen.


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