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Aus der Kriminalgeschichte: Morde, die die Welt bewegten

Mord vor dem Dinner, Teil 2

von FM Wolfgang Gerstner, September 2001

zu den Schachtexten

 

   King setzte sich an den großen Tisch, der die Mitte des Raums ausfüllte und auf dem sich das Geschirr stapelte, und forderte Cathy mit einer Handbewegung auf, seinem Beispiel zu folgen. Die Köchin kam etwas zögernd dieser Aufforderung nach und setzte sich auf den Rand des Stuhls.

"John hat mir berichtet", schlug King einen fast schon väterlichen Ton an, "daß Sie heute vermutlich die letzte Person waren, die Sir Donald lebend gesehen hat - außer dem Täter natürlich."

"Vermutlich, Sir", bestätigte Cathy. "Er forderte mich um 15 Uhr auf, eine Partie Schach mit ihm zu spielen. Während ich mit der Zubereitung des Dinners beschäftigt war, ging ich von Zeit zu Zeit hier in den Gang", sie zeigte dabei auf die Tür, durch welche King die Küche betreten hatte, "und habe ihn dabei vier oder fünf Mal gesehen."

"Sie kamen zur gleichen Zeit aus den jeweiligen Räumen?" hakte King nach.

"Das konnte schon passieren", erklärte Cathy. "Während sich Sir Donald immer nach seiner Uhr richtete, die er in der Bibliothek hatte, und exakt zehn Minuten nach seinem letzten Zug nachschaute, ob er wieder am Zug war, mußte ich mein Erscheinen natürlich vom Stand des Essens abhängig machen. Deshalb spielte ich zu Beginn schneller und benötigte später wesentlich mehr Zeit für einen Zug."

"Wann haben Sie denn Sir Donald das letzte Mal gesehen?" forschte King.

Auf Cathys Stirn zeigten sich einige Falten, als sie angestrengt nachdachte. Irritiert betrachtete der Chief Inspector ihre Finger, mit denen sie offenbar etwas abzählte. Schließlich sagte sie: "Das war nach dem 16. Zug!"

"Äh ...", entfuhr es King, "ich meinte eigentlich mehr eine Uhrzeit."

"Ach so." Jetzt war Cathy irritiert. "Das ... das weiß ich nicht so genau." King schloß für einen Moment die Augen. "In der Schlußstellung waren wir beim 25. Zug angelangt, das war etwa gegen 18:20 Uhr, kurz bevor John kam und mir mitteilte, daß ich den ersten Gang bereithalten solle. Also wird es so zwischen 17 Uhr und 17:30 Uhr gewesen sein, daß ich Sir Donald zum letzten Mal gesehen habe."

"Und die Partie wurde beendet?"

"Ja, Sir", antwortete Cathy. "Sir Donald hatte seinen König zum Zeichen der Aufgabe umgelegt. Daraufhin baute ich die Grundstellung wieder auf."

"Oh", entfuhr es King. "Sie haben gewonnen? War Sir Donald nicht ein starker Spieler?"

"Das war er, Sir", nickte Cathy, "und er hat auch öfter gewonnen als ich, aber immerhin" ,sie senkte die Augen, "habe ich drei Mal bei den walisischen Damenmeisterschaften mitgespielt und einmal sogar den zweiten Rang belegt."

"Ja, natürlich!" fiel es King ein. "John erwähnte schon, daß man für eine Anstellung bei Sir Donald eine gewisse schachliche Qualifikation mitbringen mußte." Plötzlich hatte King eine Eingebung. "War es möglich, daß eine dritte Person etwas auf dem Brett verändern konnte, während Sie und Sir Donald in den jeweiligen Räumen waren?"

"Nein", schüttelte Cathy energisch den Kopf und zerstörte sofort die Hoffnungen des Chief Inspectors, "jede Veränderung wäre uns sofort aufgefallen. Eine Schachpartie kann man sich doch leicht im Gedächtnis behalten!"

"So, so." Kings Zweifel waren unüberhörbar.

"Selbst die geschlagenen Figuren", ergänzte Cathy, "stehen immer neben dem Brett und werden nicht mehr angerührt, denn man könnte sie ja noch bei der Umwandlung eines Bauern benötigen."

"Man kann doch Figuren von einem anderen Brett nehmen", schlug King arglos vor.

"Ganz und gar nicht, Sir", widersprach Cathy, "zumindest nicht in diesem Haus." King ahnte schon, daß die nächste Überraschung bevorstand. "Sir Donald bestand darauf, daß außer seinem Elfenbeinschachbrett, ein Unikat übrigens, das sein Vater aus Indien mitgebracht hatte, kein weiteres nach Knight-Castle gebracht werden dürfe. Sir Donald betrachtete das Schachspiel als ein Duell unter Ehrenmännern."

"Bitte?" King kam sich ziemlich dumm vor.

"Nun", erläuterte die Köchin und vergaß erneut das respektvolle ‚Sir', "da wir in getrennten Räumen die Partie spielen, hätte man sonst auf einem weiteren Brett einige Varianten ausprobieren können, bis man den besten Zug gefunden hat."

"Ich verstehe", log King.

"Daß wir nur ein Brett besitzen", Cathy war jetzt richtig in Schwung gekommen, "hat übrigens den Nebeneffekt, daß bei der Unterverwandlung von Bauern nur diejenigen Figuren eingesetzt werden dürfen, die zuvor schon geschlagen wurden. Wie wollten Sie denn auch drei Damen kenntlich machen, wenn Sie nur eine solche Figur besitzen?"

"Ja, wie nur?" echote King.

"Sir Donald hätte das als einen Affront gegen die Ehre angesehen", fuhr Cathy ungerührt fort. "Ebenso hielt er nichts von der Regel, daß man einen angegriffenen Turm nicht für die Rochade verwenden dürfe. Er war der Meinung, daß die Rochade als Königszug nicht vom Zustand des Turmes abhängen dürfe." King fragte sich langsam, womit er diesen Auftrag verdient hatte. "Ferner mußte neben dem Schachgebot auch die Bedrohung der Dame mit ‚Gardez!' angesagt werden. Wenn wir in getrennten Räumen spielten, mußte man bei einem entsprechenden Zug das entsprechende Schildchen neben dem Brett aufstellen."

"Schildchen?" King erwachte aus seiner Lethargie.

"Ja", bekräftigte Cathy. "In der Figurenkiste befinden sich ein Schildchen mit der Aufschrift ‚Check', ein Schildchen mit ‚Checkmate' und zwei Schildchen mit ‚Gardez!', die zum Einsatz kommen können."

"Zwei für ‚Gardez!', aber nur eines für ‚Check'?"

Cathys Augen sprachen Bände, und King war sich auf einmal sicher, daß er auf Knight-Castle nicht einmal einen Job als Hausnarr erhalten hätte. "Beide Damen können gleichzeitig bedroht sein, aber nicht beide Könige."

"Kehren wir besser zu den Vorgängen des heutigen Tages zurück", versuchte der Chief Inspector seine Autorität wieder zu erlangen. "Haben Sie zufälligerweise einen der Anwesenden gesehen, wie er die Bibliothek betrat oder verließ?"

"Nein, Sir", räumte Cathy ein. "Das eine oder andere Mal begegnete ich jemanden auf dem Gang, wenn ich zu dem Schachbrett ging, aber entweder waren sie auf dem Weg in den Salon oder betrachteten die Stellung auf dem Brett."

"Kam Ihnen dabei jemand verdächtig vor?" forschte King. "Nervös vielleicht? Oder verärgert?"

Cathy dachte kurz nach. "Nein, Sir, daran kann ich mich nicht erinnern. Alle schienen sich normal zu verhalten."

King ertappte sich bei dem Versuch, sein Verständnis von Normalität und das der Anwesenden miteinander zu vergleichen. "Haben Sie jemanden nach 18 Uhr beobachtet?"

"Ich glaube nicht, Sir", antwortete Cathy. "Das war wohl so um den 20. oder 21. Zug herum. Nein, da habe ich niemanden mehr gesehen."

"Ist Ihnen vielleicht sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?" fragte King, damit die Frage wenigstens gestellt worden war. Cathys Zögern weckte seine Lebensgeister wieder. "Da war etwas Ungewöhnliches?"

"Nun ja", dehnte Cathy zögerlich, "unsere Partie verlief seltsam."

King hätte beinahe einen Schrei der Verzweiflung ausgestoßen, konnte sich aber noch einmal beherrschen: "Wie meinen Sie das, Cathy?"

"Eigenartig war", gab Cathy ihre Gedanken preis, "daß Sir Donald eine sehr schöne Partie gespielt hatte. Im frühen Mittelspiel hatte er mit einem positionellen Opfer die Initiative an sich gerissen", King verzichtete lieber auf Zwischenfragen, "dann aber in überlegener Stellung den Gewinn ausgelassen."

"So etwas soll öfter vorkommen", wandte King vorsichtig ein.

"Nun ja", Cathy war nicht überzeugt, "aber er hatte die ganze Zeit auf die entscheidende Wendung hingearbeitet, und in dem Moment, als er seinen Vorteil realisieren konnte, verzichtete er darauf."

"War der Gewinnzug denn schwierig zu finden?" erwachte Kings Interesse.

"Nein", raubte ihm Cathy alle Illusionen. "Jeder durchschnittliche Vereinsspieler hätte ihn gefunden, und Sir Donald hatte ihn überdies von langer Hand vorbereitet", King wußte einen Moment lang nicht, wie er weiter vorgehen sollte. "Ich kann Ihnen die Stellung gerne einmal zeigen, Sir."

"Sie kennen Sie noch?" wunderte sich King.

"Natürlich!" Cathys Entrüstung verebbte sofort wieder. "Warten Sie einen Moment. Da unser Schachbrett gerade im Salon benutzt wird, brauche ich ein paar Hilfsmittel."

Cathy stand rasch auf und durchsuchte die zahlreichen Schränke. Der Chief Inspector hatte zunächst keine Ahnung, was sie da machte, begann aber Schlimmstes zu ahnen, als sich das Obst und Gemüse auf dem Küchentisch vermehrte.

"Sehen Sie", erklärte Cathy, während sie die Nahrungsmittel anordnete, "die Tomaten sind die Bauern, die Zwiebeln sind Springer, Paprika steht für Türme, dieser Knoblauch hier ist ein Läufer, die Orangen sind die Damen und die beiden Äpfel die Könige." King starrte erst auf Cathy, dann auf den Tisch, dann wieder auf Cathy. "Das ist unsere Position nach meinem 22. Zug:

 

Cathy - Sir Donald

Schach-Krimi

Erkennen Sie, wie Sir Donald hier gewinnen konnte? 

 

Der Chief Inspector richtete seinen Blick wieder auf den Tisch und betrachtete das Sammelsurium vor ihm.

"Ich sehe auf diesem Tisch hier", setzte er mit fester Stimme an, "Tomaten, Paprika, Äpfel, Orangen, Zwiebeln und eine Knoblauchzehe!"

Jetzt starrte Cathy erst ihn und dann den Tisch an, ehe sie meinte: "Entschuldigen Sie bitte, Sir, ich versuche es Ihnen zu erklären." King schenkte ihr einen dankbaren Blick und folgte ihren Ausführungen, bis er sich endlich die Position vorstellen konnte. "Und hier konnte Sir Donald mit diesem Zug", Cathy deutete auf eine der Pflanzen, "die Entscheidung zu seinen Gunsten erzwingen."

"Aber er zog etwas anderes?" heuchelte King Verständnis.

"Genau", bestätigte Cathy, "stattdessen stellte er mir mit diesem Zug", eine Tomate wurde in Kings Richtung bewegt, "eine leicht zu durchschauende Falle. Meine Antwort", eine kecke Zwiebel hüpfte elegant über eine Tomate, "erzwang diesen Rückzug", die Orange rollte bis an den Tischrand zurück, "woraufhin diese Attacke", die eben bewegte Zwiebel übersprang eine weitere Tomate, "einen Doppelangriff auf diesen Turm", der Zeigefinder deutete auf eine stolze Paprika, "und diesen Bauern", jetzt wies er auf eine leicht verschrumpelte Tomate, "schuf. Soweit alles klar?"

"Ich kann folgen." King wurde bei dieser Lüge nicht einmal rot.

"Hier kam dieser Zug", die bedrohte Paprika rückte ins Zentrum des Geschehens vor, "in der Hoffnung, nach diesem Zug", Cathy deutete mit der rechten Hand auf die vielbeschäftigte Zwiebel und mit der linken Hand auf die verschrumpelte Tomate, "mit diesem", auch die Paprika hatte einiges zu tun und kam jetzt neben der zweiten Orange zum Halten, "in Vorteil zu kommen."

"Verstehe", murmelte King.

"Stattdessen", Cathy setzte die Paprika wieder zurück, "spielte ich diesen einfachen Zug", die Orange rollte zur Paprika, zur Zwiebel und neben eine Tomate. "Erneut ist ein Doppelangriff auf die gleichen Figuren entstanden. Der Einschlag hier", die arme, verschrumpelte Tomate, "kann nur verhindert werden, indem der Turm sich für den Springer opfert." Cathy schaute den Chief Inspector jetzt an. "Dann spielt Schwarz jedoch mit Figur und Bauer weniger, was natürlich völlig hoffnungslos ist. Somit blieb Sir Donald nur die Aufgabe und ..."

In diesem Moment wurde die Tür rechts von King geöffnet und John trat ein. Cathy verstummte sofort, und der Chief Inspector fragte: "Ja, John, was gibt es?"

"Sir", antwortete John, "die Herrschaften lassen fragen, wie lange sie noch im Salon bleiben sollen."

"Ich komme sofort." King war froh, auf diese Weise der Köchin entkommen zu können. "Richten Sie ihnen aus, daß ich in fünf Minuten im Salon bin."

"Sehr wohl, Sir", verabschiedete sich der Butler mit einer leichten Verbeugung und schloß geräuschlos die Tür hinter sich.

"Wer meinen Sie, Cathy", wandte sich King wieder an die Köchin, "hatte einen Grund, Sir Donald zu ermorden?"

"Sir Donald war sehr auf die Ehre seines Namens bedacht", Cathy schluckte leicht, "und sah es als Beleidigung dieser Ehre an, wenn man sich nicht mit voller Kraft für den Namen Knight einsetzte."

"Auch auf ... Schachturnieren", vermutete King, Johns Aussage im Hinterkopf.

"Dort ganz besonders", stimmte Cathy zu. "Nicht umsonst wählte er seine Angestellten speziell nach diesem Kriterium aus, und seine Nachkommen schickte er durch eine harte Schule bei den stärksten Meistern von Essex."

"Und wenn man schlecht spielte?" bohrte King weiter.

"Dann hatte man mit Sanktionen zu rechnen", gab Cathy zu, wobei ihre Stimme leiser wurde. "Meine Vorgängerin wurde deshalb entlassen, und auch John ist nicht der erste Butler in diesem Haus."

"Hatten Sie etwas zu befürchten?" wollte King noch wissen.

"Vor zwei Jahren", jetzt versank Cathys Stimme zu einem Flüstern, so daß sich King etwas vorbeugte, um alles richtig zu verstehen, "enttäuschte ich bei den britischen Damenmeisterschaften mit dem vorletzten Platz. Sir Donald drohte mit unehrenhafter Entlassung für den Fall, daß sich so etwas wiederholen würde." Sie stockte etwas. "Seither habe ich an keinem Turnier mehr teilgenommen, weil ich zu große Angst vor dem Versagen habe. Doch dann hat mich Sir Donald von sich aus bei einem Turnier angemeldet. Er meinte, er wolle sehen, ob ich noch geeignet für meine Tätigkeit in diesem Hause sei."

"Ich verstehe", sagte King, schnappte sich sein Notizbuch und stand auf. "Dann will ich einmal in den Salon gehen." Mit einer knappen Verbeugung verabschiedete er sich und ließ die etwas verschreckte Cathy mitsamt ihren über den Tisch verstreuten Lebensmitteln in der Küche zurück.

Auf dem Gang stieß er beinahe mit einem uniformierten Beamten zusammen, der gerade die Treppe heruntergeeilt kam.

"Hallo, Edwards", sprach ihn King an, "wollen Sie zu mir?"

"Ja, Chief Inspector", erwiderte der Beamte, "wir haben oben die Tatwaffe gefunden!"

"Sind Sie sich sicher, Edwards?" fragte King hoffnungsvoll.

"So ziemlich, Chief Inspector", sagte Edwards. "Aus dieser Waffe, einer Beretta mit Schalldämpfer, wurde vor kurzer Zeit ein Schuß abgefeuert. Wir fanden sie mitsamt dem Schalldämpfer in einer indischen Vase im oberen Flur. Der Täter benutzte offensichtlich Handschuhe, denn Fingerabdrücke sind keine darauf."

"Eine Vase im Flur", murmelte King vor sich hin.

"Ja", erzählte Edwards weiter, "sie ist fast bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Eine einzige, lange, exotische Blume steckt drin."

"Aha." Kings Hoffnung auf eine leichte Klärung schwanden wieder.

"Die Herkunft der Waffe ist bislang noch ungeklärt", ergänzte Edwards pflichtschuldig, ohne auf die Enttäuschung seines Chefs zu reagieren.

"Nun gut", faßte sich King schnell wieder, "vielen Dank für die Information, Edwards. Jetzt werden wir einmal die übrigen Anwesenden unter die Lupe nehmen."

Während der Beamte wieder die Treppe nach oben in Angriff nahm, ging King den Gang in die entgegengesetzte Richtung, bog nach rechts in den zweiten Gang ab und lief bis zu der Tür, die auf der linken Seite zum Salon führte. Ohne anzuklopfen betrat er den Raum.

Sechs Augenpaare wandten sich ihm zu. Reginald, der ältere Sohn Sir Donalds und gesegnet mit einem atlethischen Körper, schaute allerdings nur kurz von seiner Schachpartie auf, zwirbelte einmal seinen Oberlippenbart und wandte sich dann wieder dem Geschehen auf dem Brett zu. Sein Gegner war unschwer als sein Bruder Harrison auszumachen, der zwar schmächtiger gebaut war, aber ähnliche Gesichtszüge besaß. Auch er ließ sich nicht lange vom Eintreten des Chief Inspectors ablenken.

Mit einem stechenden Blick musterte Major Rook den Beamten von Scotland Yard. Seine Haltung war nicht minder gerade als die des Butlers, seine Erscheinung flößte jedoch augenblicklich Respekt ein, den er sich als Kriegsveteran erworben hatte. Er stand schräg rechts hinter Reginald und hatte offenbar der Schachpartie als interessierter Zuschauer beigewohnt. Hinter ihm, in einem weichen Sessel links neben dem brennenden Kamin, der eine wohltuende Wärme erzeugte, saß Margaret Queen. Sie hatte ein Buch auf ihre Knie gelegt und schaute über ihre Lesebrille neugierig zu King herüber.

Rechts neben dem Kamin befand sich eine Sitzgruppe, bestehend aus einem breiten Sofa und einem weiteren Sessel in der gleichen Art wie derjenige, in welchem Margaret gerade in ihrer Lektüre gestört worden war. Auf der Couch saßen Peter Bishop und Virginia, die Tochter Sir Donalds, und hatten ihr Gespräch unterbrochen. Zu Kings Überraschung trugen alle Anwesenden Abendgarderobe.

"Guten Abend, meine Damen und Herren", begrüßte sie King mit einer leichten Verbeugung. "Ich bin Chief Inspector King von Scotland Yard. Ich bedaure es sehr, daß Sie so lange warten mußten, aber der Anlaß bringt ja für Scotland Yard auch entsprechend viel Arbeit mit sich."

"Das verstehen wir, Chief Inspector", antwortete Reginald, während er über seinem nächsten Zug brütete. "Wie ist denn der Stand Ihrer Bemühungen?"

"Nun, Mr. Knight", wandte sich King an den Sprecher, "wir können den Tathergang ziemlich genau beschreiben, aber Spuren, die den Täter identifizieren würden, haben wir bislang noch nicht gefunden. Die bisherige Befragung des Butlers und der Köchin haben uns ebenfalls nicht entscheidend weitergebracht" Dabei dachte er speziell an die Obst- und Gemüsechoreographie auf dem Küchentisch "Vielleicht stellen Sie mich aber kurz den Damen und Herren vor?"

"Natürlich, Mr. King." Es kostete Reginald sichtbar Überwindung, seine Konzentration vom Brett wegzubewegen. "Meinen Bruder Harrison haben Sie ja schon vorhin kennengelernt. Major Rook", er wies auf den Mann neben ihm, der eine eckige Verbeugung zustandebrachte, "ist ein alter Freund der Familie und für diese Woche als Gast auf Knight-Castle. Hier rechts", seine Hand schwenkte zum Sessel, "sitzt Margaret Queen. Sie arbeitet als freie Schachjournalistin und interessiert sich sehr für das Buch, an dem unser Vater gearbeitet hat."

"Sir Donald hatte mir für morgen ein Interview versprochen", warf Margaret geschickt ein. "Es wäre das absolute Highlight der englischen Schachpresse gewesen."

"Und hier drüben", überging Reginald diese Bemerkung mit einem verzeihenden Lächeln in Richtung der Journalistin, "sitzen unsere Schwester Virginia", sie senkte schüchtern den Blick, "und unser Anwalt Peter Bishop."

"Sir Donalds Anwalt?" fragte King sichtlich überrascht.

"Ja, Mr. King", antwortete dieser. "Sir Donald hatte mich über's Wochende hergebeten, um einige geschäftliche Dinge zu klären."

"Dazu kommen wir später", lenkte King seine Aufmerksamkeit wieder auf Reginald. "Mr. Knight, Ihr Butler erzählte mir, daß Sie als erster Ihren Vater untersuchten, nachdem er ihn in der Bibliothek aufgefunden hatte."

Der Chief Inspector war jetzt nahe an den etwa einen Meter hohen Tisch herangetreten und betrachtete fasziniert das Brett. Es war ebenso wie die Figuren in Handarbeit aus Elfenbein geschnitzt worden, fein verziert und ohne jeden Makel.

"Das ist korrekt", bestätigte Reginald, griff zu einer Pfeife und zog einmal genüßlich daran. "Es war allerdings nicht viel zu tun. Das Loch im Hinterkopf war nicht zu übersehen, das Blut schon getrocknet. Ich fühlte nach seinem Puls, konnte aber keinen entdecken."

"Ja", bekräftigte King, "der Schuß war sofort tödlich. Ein sehr guter Schütze."

"Pah!" fuhr es ungnädig aus Major Rook heraus. "Der Schuß kam doch von der Tür, nicht wahr? Aus drei Metern trifft selbst ein mittelprächtiger Schütze noch leicht ein ruhendes Ziel!"

"Und Sie sind ein guter Schütze, Major?" hakte King sofort nach.

Die Augen des Majors maßen den Sprecher mit einem mitleidigen Blick, ehe er sagte: "Was für eine Frage, Chief Inspector! Ich habe beinahe 40 Jahre in der Armee gedient. Meine Augen sind noch immer so scharf wie damals, als wir in Indien die Rebellen aus 100 Metern aufs Korn nahmen. Ich sage Ihnen, Chief Inspector, das war eine schwierige Situation, wir eingeschlossen und umzingelt von dunkelhäutigen Kämpfern, die nur noch Freiheit oder Tod kannten ..."

"Wir sollten uns auf den heutigen Abend konzentrieren, Major Rook", unterbrach ihn Virginia sanft. "Um die Frage zu beantworten, die Sie zweifellos interessiert: Auch ich hätte auf diese Entfernung sicher getroffen, und für meine Brüder gilt das gleiche."

King schaute überrascht zu der schlanken Frau hinüber, dann wandte er sich an ihren Nachbarn: "Was ist mit Ihnen, Mr. Bishop?"

 

Weiterlesen: Schach-Krimi Teil 3


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