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Aus der Kriminalgeschichte: Morde, die die Welt bewegten

Mord vor dem Dinner, die Lösung

von FM Wolfgang Gerstner, September 2001

zu den Schachtexten

 

   Als er in den Salon zurückkehrte, schenkte John gerade dem sichtlich übermüdeten Reginald einen Kaffee ein. Virginia, Margaret, Peter und Harrison schliefen auf dem Sofa bzw. in den Sesseln, während Major Rook scheinbar immer noch frisch aus dem Fenster schaute.

"Ah, Chief Inspector", wurde King auch sofort von letzterem angesprochen, "das hat jetzt aber ganz schön lange gedauert! Sie sehen auch aus, als ob Sie Schlaf vertragen könnten."

Harrison blinzelte unsicher und Peter schreckte auf. Virginia und Margaret hingegen mußten erst von John vorsichtig geweckt werden.

"Das ist wohl wahr", antwortete King, "aber bei einem Mord verfolgt man die Spur am besten, solange sie nicht verwischt ist."

"Hat Sie denn das Schachspiel weitergebracht?" wollte Reginald wissen, wobei die Zweifel in seiner Stimme nicht zu überhören waren.

"Äh ... na ja, wie soll ich mich ausdrücken?" wand sich King etwas. "Diese eine Bemerkung von Cathy, von der ich vorhin gesprochen hatte ... ich will ehrlich sein, ich kann sie nicht richtig deuten." Er schaute zum Major. "Würden Sie bitte das Brett wieder aus der Bibliothek holen, Major?"

Major Rook zog die Augenbrauen leicht hoch, erwiderte aber nichts und verließ den Raum. Wenige Augenblicke später kehrte er mit dem kostbaren Kunstwerk zurück und plazierte es auf dem Tisch, an dem zuvor Harrison und Reginald gespielt hatten. King trat hinzu und baute die Stellung nach dem 21. Zug von Sir Donald auf. Die Aussicht auf eine interessante Partie weckte offenbar die Lebensgeister der übrigen Anwesenden, denn bis auf John, der unhörbar aus dem Raum verschwand, traten alle nahe heran.

"Wie Sie sehen, meine Damen und Herren", begann King, "habe ich die Position aufgebaut, welche entstanden war, als Sie alle zum Umkleiden in den oberen Stock gegangen sind." Allgemeines Kopfnicken bestätigten dies. "Es folgte dieser Zug von Cathy", seine Hand schob eine Figur vor, "gefolgt von Sir Donalds Antwort", die schwarze Dame kam neben dem Zentrum zum Stehen. "Nach Cathys nächstem Zug", auch hier wurde eine Dame bewegt, "gelangen wir zu einer Position, die ich nicht richtig einschätzen kann." Es handelte sich um die Kreation auf dem Küchentisch. "Mir ist nicht ganz klar, wie diese Stellung zu bewerten ist. Hat Sir Donald nun genügend Initiative für das Opfer oder nicht?"

"Sind Sie sicher, daß dies mit dem Mord zusammenhängt?" wandte Harrison ein.

"Wie gesagt", drückte King sein Bedauern aus, "das weiß ich nicht. Cathy hat von einem seltsamen Ereignis berichtet. Aber was soll daran seltsam sein?"

Kings Gesicht glich einem einzigen Fragezeichen. Die Anwesenden betrachteten teils irritiert, teils neugierig das Brett und versenkten sich für einige Zeit in die neue Position.

"Nun ja", äußerte sich Reginald als Erster, "die Initiative von Schwarz scheint kurz vor dem Versiegen zu sein. Wenn er nicht schnell handelt, spielt Weiß Sg3 und überdeckt damit den Be4. Oder er spielt Sd4, die schwarze Dame weicht zurück, und dann kommt Sf5 mit Doppelangriff auf den Te7 und den Bh6. Deshalb bietet sich das Schlagen auf e4 an, es öffnet die lange Diagonale für einen Abzug."

Ohne die Figuren zu bewegen, kreisten die Gedanken um die von Reginald vorgeschlagene Variante.

"Ja, eindeutig", sagte Harrison nach wenigen Augenblicken, "Sxe4 gewinnt."

"Sicher?" Margaret runzelte die Stirn "Wenn dann Weiß ... ja, Harrison, Du hast recht."

"Vielleicht vollziehen wir das ganze auf dem Brett nach", schlug King vor, obwohl er alle diese Varianten zuvor schon in sein Notizbuch eingetragen hatte, "sonst verstehe ich nicht, über was Sie alle hier sprechen."

"Kein Problem, Mr. King", gab sich Reginald gönnerhaft. "Wir schlagen Sxe4 vor." Er nahm den Bauern vom Brett und schob den Springer an dessen Stelle. "Es droht nun Matt im nächsten Zug durch Sf2+ oder Sg3+. Weiß muß auf e4 mit dem Bauern zurücknehmen."

"Ansonsten ist Matt oder entscheidender Materialverlust unvermeidlich", erläuterte Peter dem Chief Inspector, "h3 wird mit Sg3+ Kh2 Txe2+ Kxg3 Df3 beantwortet. Die Flucht Kg2 wird mit Sg5+ widerlegt, wonach Weiß die Dame opfern muß. Auch Tg2 verliert schnell nach Tf1+ Sg1 Sf2+ Dxf2 Txf2, und das Matt läßt sich nicht vermeiden."

"Alles andere als die Annahme des Opfers wäre auch feige", kommentierte Major Rook, während Harrison den Springer neben das Brett stellte, "und jetzt kommt natürlich Txe4."

Schach-Krimi

 

"Die weiße Dame ist angegriffen", schaltete sich Margaret ein, während sie King ansah, "außerdem droht Txe2+ nebst Matt. Ist Ihnen alles klar?"

King nickte und entgegnete: "Ja, Miss Queen, vielen Dank. So kann ich der ganzen Geschichte schon besser folgen." Er legte eine kurze Pause ein und betrachtete erneut das Brett. "Weiß ist also verloren?"

"Ja", antwortete Reginald bestimmt, "die Dame kann sich nirgends verstecken und gleichzeitig die lange Diagonale gegen das drohende Abzugsschach schützen."

"Auf Dh5 folgt natürlich Te5+", übernahm wieder Margaret, "und nach Dh3 gewinnt Schwarz mit Txe2+ Tg2 Tf1 matt."

"Aber Weiß kann doch gewinnen", widersprach Peter etwas unsicher, "er kann zwar die Dame nicht retten, sie aber opfern."

"Du meinst auf h6?" meldete sich erstmals Virginia.

"Ja, sicher", wurde dies von Peter bestätigt, "Schwarz muß dem Bauern zurücknehmen, dann spiele ich g7+."

"Die Stellung ist aber trotzdem verloren, Peter", erwiderte Reginald, während er die Züge ausführte, "denn nach Kh7 ist es vorbei."

Schach-Krimi

 

Peter zögerte ungläubig, so daß Reginald fortsetzte: "Wenn Du auf f8 schlägst, setzt Txe2+ matt, nach g8D+ Txg8 Lxg8+ Kh8 hat Weiß kein Schach mehr, Sd4 scheitert an Txd4+ Tg2 Tf1 matt, und nach Lc2 Kg8 gxf8D+ Kxf8 Lxe4 Dxe4+ Tg2 Dxb1+ bleibt Schwarz mit Dame und zwei Bauern für Turm und Springer. Das gewinnt leicht."

"Aber ich kann doch auf f8 schlagen und den Bauern in einen Springer verwandeln", wunderte sich Peter. "Dadurch steht Schwarz im Schach. Nach dem erzwungenen Kh8 setzt Weiß mit Tg8 matt und gewinnt!"

Virginia lächelte zu Peter, als sie meinte: "Das funktioniert natürlich außerhalb dieses Hauses, Peter, aber nicht auf Knight-Castle." Peter schaute sie verwundert an. "Hier steht Dir kein Springer zur Verfügung, den Du gegen den Bauern eintauschen könntest. Du mußt wissen, das ist eine von Vaters Regeln: Man darf nur zuvor geschlagene Figuren einsetzen, und leider sind die beiden weißen Springer noch im Spiel. Leider, denn sonst wäre diese Kombination wirklich sehr schön."

"Ach so", entschuldigte sich Peter, "eine von euren Sonderregeln."

"Genau", übernahm Reginald wieder das Wort, "Mr. King, Sie sehen, daß Schwarz in der Tat mit Sxe4 zwingend gewinnen kann."

"Ja, ich sehe das", stimmte King bei, "und Sie haben auch nicht lange gebraucht, um das alles zu sehen."

"Nicht allzu schwer zu finden", mischte sich Major Rook ein, "wenn man erst einmal das Schlagen auf e4 in Betracht zieht." Beifälliges Kopfnicken von allen Seiten. "Ein Kinderspiel im Vergleich zu dem Tag, als wir im roten Sand von Jordanien eingegraben waren, über uns die gleißende Sonne, umzingelt von aufständischen Beduinen ..."

"Man kann das schnell berechnen", unterbrach Virginia einmal mehr gekonnt, "es gibt nur wenige Nebenvarianten, und die sind relativ kurz."

"Was glauben Sie", fragte King in die Runde, "weshalb Sir Donald dann auf Sxe4 verzichtet und stattdessen d5 gespielt hat?"

Es wurde auf einmal so ruhig, daß nicht einmal John unbemerkt in den Raum hätte eintreten können. King ließ seinen Blick über jeden einzelnen schweifen und stellte zufrieden fest, daß die Person, welche er seit dem Partiestudium in der Bibliothek verdächtigt hatte, plötzlich sehr unruhig wurde.

"Er ... hat d5 gespielt?" Major King konnte sein Erstaunen nicht verbergen "Das ist ... feige!"

"Das ist schwer zu glauben", Harrison schüttelte den Kopf, "sind Sie sich da ganz sicher, Mr. King?"

"Absolut", bekräftigte King. "Cathy hat mir die Partie in der Küche gezeigt. Nach d5 Sd4 Da8 Sf5 stellte Sir Donald noch die Falle Te5, um nach Sxh6 mit Th5 plötzlich zu gewinnen, aber Cathy spielte stattdessen einfach Df4."

"Droht wieder Sxh6" sinnierte Reginald "Gleichzeitig hängt der Te5. Schwarz muß auf f5 opfern, aber dann ..." Sein Handbewegung ließ keinen Zweifel daran, was er von der Endstellung hielt.

"Deshalb gab Sir Donald an dieser Stelle auf", bestätigte King.

"Unfaßbar!" Harrison schüttelte den Kopf. "Statt eines einfachen Gewinns verliert er die Partie in drei Zügen."

"Das war es auch", sagte King, "weshalb Cathy mir gegenüber die Aussage machte, daß etwas Seltsames vorgefallen war."

"Verständlich", war der einzige Kommentar Reginalds.

"Und diese Aussage", fuhr King leicht triumphierend fort, "brachte mich auch auf die Spur des Mörders!"

Erneut trat Totenstille in dem Raum ein. Harrison sank leicht zurück, während Reginald den Mund öffnete, dann aber doch nichts herausbrachte und ihn erst einmal offen stehenließ.

"Für Sie sind solche Kombinationen einfach", der Chief Inspector konnte eine tiefe innere Genugtuung nicht verbergen, "für mich jedoch solche Fälle wie der heute abend. In der Bibliothek hat es mir zwar einiges Kopfzerbrechen bereitet, bevor ich alle Details zu einem stimmigen Bild zusammengefügt hatte, aber eigentlich war ich mir schon zu Beginn sicher, wer diese scheußliche Tat begangen hat."

"Und weshalb dann dieser Humbug mit der Partie hier?" polterte Major Rook los.

"Ich werde es Ihnen erzählen", meinte King gönnerhaft, "aber lassen Sie mich zunächst bei der Tat selbst beginnen." Kunstpause. "Welche Anhaltspunkte haben wir?"

Niemand der Anwesenden antwortete. Alle waren von Kings Aussagen überrumpelt worden.

"Nun, meine Damen und Herren", genoß King die Sprachlosigkeit, "folgender zeitlicher Ablauf ist gesichert: Um 18 Uhr verließen Sie alle den Salon und zogen sich in das obere Stockwerk zurück. Um 18:07 Uhr wurde Sir Donald ermordet, als der Täter die Bibliothek durch die Tür gegenüber der Küche betrat."

"Um 18:07 Uhr?" wunderte sich Virginia. "Weshalb sind Sie sich da so sicher?"

"Weil Sir Donalds Oberkörper auf den Schreibtisch fiel", antwortete King, "und dabei die Uhr auf dem Tisch zertrümmerte. Sie blieb um exakt 18:07 Uhr stehen. Kein Zweifel!"

"Klingt einleuchtend", stimmte Harrison bei.

"Um 18:20 Uhr kippte Sir Donald seinen König um", fuhr King fort, "und gab damit die Partie auf."

"Aber ... aber das ... das geht doch nicht", wandte Margaret ein, "er war doch schon tot, wie Sie eben sagten!"

"Der Mörder hat die Partie weitergespielt?" Reginalds Müdigkeit war wie weggeblasen. "Sind Sie sicher? Oder kann das nicht Cathy erfunden haben?"

"Wieso sollte sie?" fragte King. "Sie ist gewiß nicht die Mörderin. Dafür gibt es mehrere Gründe, der offensichtlichste ist der, daß es für sie viel zu riskant gewesen wäre, die Tatwaffe in den oberen Stock zu bringen und in der indischen Vase zu verstecken."

"Das leuchtet ein", pflichtete Major Rook bei.

"Außerdem durchsuchte der Mörder nach der Tat noch die Bibliothek", erklärte King. "Er wurde nach einiger Suche fündig, benötigte aber eben auch seine Zeit für die Suche. In der Zwischenzeit hätte John, der ja ständig zwischen Küche und Speisesaal pendelte, gewiß Cathys Fehlen bemerkt."

"John kommt auch nicht in Frage?" forschte Harrison.

"Nicht wirklich", bestätigte King, "gerade John hätte die Tatwaffe ohne viel Aufhebens verschwinden lassen können. Sie als Täuschungsmanöver nach oben zu bringen, wäre zwar weniger riskant als bei Cathy, aber vor allem sind er und Cathy die einzigen, die aufgrund ihrer Motive keinen Grund besaßen, die Bibliothek nach etwas Belastendem zu untersuchen."

"Das hört sich noch etwas vage an", zweifelte Margaret.

"Zugegeben", lächelte King, "aber wir sind ja noch lange nicht am Ende. Wenn wir erst alle Mosaiksteinchen richtig hingelegt haben, ergibt sich ein klareres Bild." Der Chief Inspector trat einen Schritt zurück. "Wundert es eigentlich niemanden über die Dauer der Partie?"

Die Anwesenden schauen sich verblüfft an. Schließlich meinte Reginald: "Wieso die Dauer der Partie?"

"Nun", hob King überlegen an, "zwischen dem 20. Zug von Sir Donald und dem Ende der Partie vergingen gerade einmal 20 Minuten." Kurze Pause, in der das Unverständnis überwog. "Er führte aber vier Züge aus!"

Major Rook stieß einen anerkennenden Pfiff aus: "Scharf kombiniert, Chief Inspector. Sir Donald verließ immer genau 10 Minuten nach seinem letzten Zug die Bibliothek, um zu sehen, ob sein Gegner schon gezogen hatte. Er hätte also maximal zwei Züge ausgeführt."

"Ganz genau, Major", stimmte King zu, "und jetzt schauen Sie sich noch einmal diese Stellung an", er zeigte auf das Brett, wo wieder die Position aufgebaut war, die Cathy ihm gezeigt hatte, "und überlegen Sie, weshalb nicht der Gewinnzug Sxe4, sondern der Verlustzug d5 ausgeführt wurde."

"Zwischen 18 Uhr und 18:07 Uhr führte Vater maximal einen Zug aus", sinnierte Virginia, "also ... führte der Mörder den Verlustzug aus." Auf einmal wandeten sich alle Blicke einer einzigen Person zu.

"So ist es, meine Damen und Herren", gab King ihr recht. "Der Mörder war in einer prekären Lage: War er nicht schnell genug mit der Suche und führte in dieser Zeit keinen Zug aus, könnte Cathy Verdacht schöpfen und hereinkommen. Schließlich war er mit Sir Donalds Angewohnheiten nicht vertraut."

Langsam erkannten alle die ganze Wahrheit.

"Der Mörder wußte, daß Sir Donald ein exzellenter Schachspieler war", erläuterte King weiter, "und ist es auch selbst. Zweifellos berechneten beide die Variante mit Sxe4, für deren Analyse ich beinahe eine Stunde benötigte, in wenigen Minuten. Dennoch kamen beide zu unterschiedlichen Ergebnissen. Und warum?" King schaute dem Mörder triumphierend in die Augen. "Weil Sir Donald natürlich sah, daß er bei der Damenopfervariante nicht mattgesetzt werden könnte, der Mörder aber nicht wußte, daß in Knight-Castle keine drei Springer auf einem Brett stehen können - weil er eben mit den Sonderregeln nicht vertraut ist, wie er uns in der Analyse vorhin deutlich gezeigt hat!"

Schweißperlen traten dem Mörder auf die Stirn. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch keinen Ton heraus.

"Sie hatten wirklich großes Pech", schloß King und lehnte sich zufrieden zurück, "daß Sie bei Ihrem ersten Besuch auf diesem Schloß die Partie gerade an dieser Stelle übernehmen mußten. Nicht wahr - Mr. Bishop?"


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